Pariser Atomtests lösten Krebs aus
04.08.2006: Zwischen den Atombombentests in der Südsee und dem verstärkten Auftreten von Schilddrüsenkrebs unter der Bevölkerung gibt es einen direkten Zusammenhang. Den hatte Frankreich bislang immer bestritten.
Atombombenexplosion über dem Mururoa-Atoll
Zwischen 1966 und 1974 unternahm Frankreich 46 oberirdische Atomwaffentests auf seinen pazifischen Überseebesitzungen. Anschließend folgten bis zum Stopp der Versuche nach internationalen Protesten im Jahr 1996 weitere 150 unterirdische Zündungen.
Erstmals hat nun eine [bislang unveröffentlichte] Studie der angesehenen "Einheit 605" am staatlichen epidemiologischen Institut für Krebsforschung einen direkten Zusammenhang zwischen diesen Versuchen und dem Auftreten von Schilddrüsenkrebs unter der polynesischen Bevölkerung nachgewiesen. Die unter Leitung des Forschers Florent de Vathaire erstellte Expertise erregt derzeit in Frankreich großes Aufsehen, weil das selbe Institut noch 1994 und 1997 jede Kausalität zurückgewiesen hatte.
"Signifikante Beziehung"
Die "Einheit 605" verglich 239 Fälle von an Schilddrüsenkrebs Erkrankten mit 363 gesunden Einwohnern der französischen Überseeprovinz Polynesien. Dabei wurde eine "signifikative Beziehung zwischen der von der Schilddrüse aufgenommenen totalen Strahlendosis während der Atomwaffentests und dem Risiko, zwischen 1985 und 2002 an Schilddrüsenkrebs zu erkranken, gefunden", heißt es in einem Brief, den de Vathaire an den Vorsitzenden des polynesischen Regionalrates richtete. Diese Relation sei "eindeutig, unabhängig vom Alter zum Zeitpunkt der Verstrahlung, und sie wird noch klarer, wenn man die Dosis untersucht, der eine Person vor dem 15. oder vor dem zehnten Lebensjahr ausgesetzt war".
In der Vergangenheit hatte der französische Staat regelmäßig einen solchen unmitelbaren Zusammenhang bestritten. Nun regt de Vathaire an, dass eine Reihe von Dokumenten, die bislang als "geheim" klassifiziert sind, offen gelegt werden, um weitere Forschungen zu ermöglichen. Es sei "notwendig, die Gesamtbevölkerung zu betrachten", vor allem aber, "eine genaue Untersuchung der Arbeiter vorzunehmen, die an diesen Tests beteiligt waren", was wegen fehlender Finanzmittel allerdings nicht sichergestellt sei.
Verschiedene Erkrankungen
Der Vorsitzende des polynesischen Regionalrates, Oscar Temaru, stellte angesichts der Erkenntnisse des Wissenschaftlers fest, es sei nunmehr eine "klare Erkenntnis, dass die damaligen oberirdischen Atomversuche dazu beigetragen haben, die Schilddrüsenkrebsrate in Polynesien zu steigern". Die "Vereinigung der Atomtestveteranen" reagierte auf die Studie mit dem Hinweis, dass Frankreich "eine der letzten Nationen" sei, die "nach wie vor die Schädlichkeit ihrer Atomtests noch nicht anerkannt hätten". Die Vereinigten Staaten hätten demgegenüber bereits seit 1988 "31 verschiedene Krankheiten, darunter 25 Krebsarten, als mögliche Folgen von Atomtests" anerkannt, denen "Personen in einem Umkreis von 700 Kilometer vom Point Zero" ausgesetzt waren.
Die französischen Tests in Polynesien begannen am 2. Juli 1966 mit einer Atombombe von 30 Kilotonnen Sprengkraft, die auf einem Ponton im Mururoa-Atoll explodierte - zum Vergleich: Die Uran-Bombe, die am 6. August 1945 über Hiroshima gezündet wurde, hatte 20, die Plutonium-Bombe, die drei Tage später Nagasaki einäscherte, 17 Kilotonnen Sprengkraft. Am 24. August 1968 erprobte das französische Militär seine erste Wasserstoffbombe mit 1000 Kilotonnen Sprengkraft, die an einem Ballon über der Pazifikinsel Fangataufa hing.
Die insgesamt 46 oberirdischen Tests bis 1974 wurden außerdem von Bombern (Mirage und Jaguar) in der Luft und von eigens errichteten Türmen aus gezündet. Weitere Versuche fanden zwischen den Jahren 1960 und 1966 in der Sahara statt.
Hans-Helmut Kohl
Zuerst erschienen in der Frankfurter Rundschau vom 4. August 2006
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