Rezensionen zu 1) Franz Hernsheim: Südsee-Schriften. Lebenserinnerungen und Tagebücher und 2) Götz Aly: Das Prachtboot.

14.02.2023: von Volker Harms, Tübingen

Volker Harms, Tübingen

Über den Autor dieser Doppelrezension: Volker Harms promovierte 1969 mit dem Hauptfach Ethnologie und den Nebenfächern Soziologie und Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Gleich nach der Promotion war er Wiss. Assistent an der Universität Göttingen, dann Wiss. Angestellter am Übersee-Museum in Bremen und schließlich Akademischer Rat bzw. Oberrat sowie Kustos der Ethnologischen Sammlung an der Universität Tübingen. Sein regionales Interessensgebiet ist Westpolynesien, wo er 1987 auf zwei Atollen des Inselstaates Tuvalu und auf den Inseln Wallis und Futuna (französisches Kolonialgebiet in Westpolynesien) Feldforschungen sowie auf Wallis Archivforschungen unternahm.

Franz Hernsheim: Südsee-Schriften. Lebenserinnerungen und Tagebücher. Bearbeitet und herausgegeben von Jakob Anderhandt mit einem Vorwort von Robert Creelman. Die Südsee-Bibliothek / tredition; Hamburg 2019 (ISBN 978-3-2888-6)

sowie zu: Götz Aly: Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021 (ISBN 978-3-10-397036-4) mit einem Nachwort-Artikel des Autors im Feuilleton der F.A.Z. Vom 20. Sept. 2021

Die beiden Bücher sind mir im Abstand von zwei Jahren für eine jeweilige Besprechung zugegangen. Da jedoch in beiden dieselben Persönlichkeiten zum einen historisch durch sie selbst, zum anderen unter einem besonderen aus der heutigen Zeit bestimmten Blickwinkel dargestellt und beurteilt werden, folgt hier eine gemeinsame Rezension unter Einbeziehung des von mir als Nachwort-Artikel bezeichneten Feuilleton-Beitrags von Götz Aly. Außerdem wird mit dieser Rezension weniger die annoncierende Aufgabe von Buchbesprechungen und mehr die archivierende Funktion betont, die sie ebenfalls haben und deren Hervorhebung durch die breite Debatte, in die vor allem das Buch von Götz Aly eingebunden war, besonders gerechtfertigt erscheint.

Der Herausgeber und Bearbeiter des ersten Buches, Jakob Anderhandt, hat 2012 eine zweibändige 1200 Seiten starke Biographie über Eduard Hernsheim (1847-1917), den Bruder von Franz Hernsheim (1845-1909), veröffentlicht. Er hat damit ein Werk vorgelegt, das weit mehr als nur die Biographie einer einzelnen Person darstellt. Vielmehr erzählt er diese Lebensgeschichte auf der Basis seiner außerordentlich umfassenden Kenntnisse der Kolonial- und Wirtschaftsgeschichte der Inseln im Westlichen Pazifik in der Zeit zwischen den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des Ersten Weltkrieges (Anm. 1). Mit seiner darauf beruhenden Kompetenz hat er auch die beiden hoch interessanten und bisher noch nicht als Publikationen zugänglichen Dokumente ediert, die aus der Feder von Franz Hernsheim stammen.

Die Dreiteilung des ersten Buches wird aus dem Titel ersichtlich. Dabei ist der ausdrückliche Hinweis auf das Vorwort von Bedeutung, weil in diesem auf besondere Weise der historische Rahmen der beiden Dokumente erläutert wird, deren Analyse einen wesentlichen Beitrag zur Rekonstruktion der Mentalitätsgeschichte der deutschen Kolonialherrschaft auf den Südsee-Inseln leisten kann. Es ist angesichts der Inhalte und der Eigenart der Dokumente kaum verwunderlich, dass der Autor des Vorworts gleich am Beginn seiner Ausführungen nachdrücklich für ein vom Historismus geprägtes Denken bei der Lektüre der Texte plädiert (p.13): „Ist er (der heutige Leser) gerecht gegen den Autor, dann wird er versuchen, seine Kenntnisse und Einstellungen als Nachgeborener auszublenden und dasjenige an Wissen und Werten in den Vordergrund zu rücken, was in der fraglichen Zeit bekannt und selbstverständlich war. Erst über einen solchen Versuch, der verschüttetes Wissen aufdeckt und den historischen Akteur von seinen Wertvorstellungen her versteht und beurteilt, entfalten Erinnerungen und Tagebücher ihr ganzes Potential.“(Kursivsetzung im Original.)
Obwohl ich mich ausdrücklich dazu bekenne, bei der Analyse historischer Dokumente das Denken des Historismus als unverzichtbare Grundlage anzusehen, möchte ich zugleich davor warnen, dies ohne gleichzeitige Beachtung des heutigen Wissens und des Erkenntnisinteresses zu tun aufgrund dessen man sich mit der jeweiligen Quelle befasst. Letzteres besteht für mich darin, die Mentalitätsgeschichte des deutschen die Südsee-Inseln betreffenden Kolonialismus zu erfassen. Ein Vergleich der Lebenserinnerungen von Franz Hernsheim mit dem im selben Buch veröffentlichten Tagebüchern bietet am Beispiel seiner Schilderungen eines Besuchs der Insel Kusaie (heute: Kosrae) die Möglichkeit, durch Kenntnisnahme einer zunächst als besonders eigenartig empfundenen Mitteilung in einem dritten zu dem gegebenen Zusammenhang gehörigen Dokument wesentliche Aspekte der Mentalitätsgeschiche zu erschließen.

Die Lebenserinnerungen und die Tagebücher von Franz Hernsheim beziehen sich auf zwei nur teilweise gleiche Zeitabschnitte aus der deutschen Kolonialgeschichte in der Südsee. Die Lebenserinnerungen umfassen sowohl die Jahre vor dem offiziellen Beginn der deutschen Kolonialherrschaft als auch noch eine ganze Reihe von Jahren danach, die Franz Hernsheim aus der Perspektive des Firmengründers, zu dem er gemeinsam mit seinem Bruder Eduard in den Jahren davor geworden war, als die besonders erfolgreichen Jahre seiner Tätigkeiten in der Südsee ansieht. Die vom Herausgeber Jakob Anderhandt ausgewählten Tagebücher umfassen mit den Jahren vom Januar 1875 bis zum Juni 1880 einschließlich einen sehr viel kürzeren, aber dennoch besonders wichtigen Abschnitt der Jahre vor dem offiziellen Beginn der deutschen Kolonialherrschaft in der Südsee.

In den Lebenserinnerungen weist Franz Hernsheim (Edition p.28) darauf hin, dass er unter dem Titel Südsee-Erinnerungen Reisen mit einem Segel-Schoner, die er wohl überwiegend gemeinsam mit seinem Bruder Eduard zu einer Reihe von größeren Südsee-Inseln unternahm, in Buchform (o. J., vermutlich 1883; Anm. 2) veröffentlicht habe. Diese Südsee-Erinnerungen lesen sich, wohl nicht nur aus heutiger Sicht, wie ein Prospekt, mit dem nach der Gründung der Firma Hernsheim & Co. im deutschen Sprachraum unter unternehmerisch orientierten Personen für ein Leben als Händler oder Plantagen-Verwalter in der Südsee geworben werden sollte, und zwar dadurch, dass alle Aufenthalte auf den besuchten Inseln auf eine Weise beschrieben wurden, in der die Besucher sich immer nur auf das Freundlichste und Zuvorkommendste von den Einheimischen behandelt fühlten und an die Möglichkeit von Konflikten nicht im Entferntesten zu denken war.

Das Kapitel über den Aufenthalt auf der Insel Kusaie macht dabei zunächst, so wie dieser in den Südsee-Erinnerungen beschrieben wird, keine Ausnahme. Als verwunderlich und widersprüchlich empfand ich bei einer früheren Lektüre der Südsee-Erinnerungen in diesem Kapitel dann aber die beiden folgenden Absätze, in denen ihr Autor über die Einwohner der Insel Kusaie schreibt (p. 54): „Sie sind eben erwachsene Kinder und werden es für die kurze Zeit, die sie noch weiter vegetiren mögen, trotz des Umganges mit Missionären und Händlern bleiben. Freundlich, gutherzig, ohne Arg, mit einem dünnen Ueberzuge oder richtiger Namen; aber ohne Verständniss, ohne Gedächtniss, ohne jegliche Tradition oder nur alte Gebräuche und Sitten, lassen sie sich willenlos leiten und leben, frei von jeglicher Sorge, in ihrem Paradiese dahin, bis sie, zweifelsohne binnen Kurzem, ihr prachtvolles reiches Land zur Ausnützung an Fremde abgeben müssen. Auch körperlich sind diese Menschen, denen es doch an reichlicher guter Nahrung nicht fehlt, klein und schmächtig und sehen aus, als ahnten sie ihr bevorstehendes Ende.“ (Die Orthographie entspricht dem Original.)

Gerade wenn ich als heutiger Leser mich bemühe, der Forderung des Vorwort-Autors Creelman zu folgen und mich historistisch auf das damalige Denken einzulassen, erscheinen diese Zeilen als ein Panorama der kolonialistischen Mentalität, aus der heraus rücksichtslose Unternehmer wie die Brüder Hernsheim sich das Land der Bewohner der Südsee-Inseln aneigneten und deren Arbeitskraft entsprechend ihrer Handelsinteressen häufig auf das Skrupelloseste ausbeuteten. Ihre Bestätigung findet diese Ansicht bei der Lektüre des zweiten von Anderhandt ebenfalls vorzüglich edierten Tagebuchs, in dem Franz Hernsheim die Ereignisse und seine eigenen Tätigkeiten auf der Insel Kusaie an den Tagen vom 20. Februar 1880 bis zum 29. Februar 1880 beschreibt. Er fügt darin auch in einem allerdings etwas veränderten Wortlaut die Prophezeiung des für die Bevölkerung der Insel abzusehenden Daseinsendes ein. Man gewinnt beim Lesen des Tagebuchs den Eindruck, dass gerade diese Passage nicht nur durch die heute gebräuchliche Orthographie verändert wurde, sondern auch die Formulierungen, die in den Südsee-Erinnerungen eigenartig holprig und nahezu unverständlich daher kommen, in der Edition stilistisch geglättet wurden und sie so klarer und dabei in der Tendenz geschmeidiger klingen, wobei sie jedoch die oben angesprochene kolonialistische Mentalität keineswegs auf weniger deutliche Weise spiegeln (Anm. 3) .
Über den Beginn seines Aufenthalts auf der Insel schreibt Franz Hernsheim (p. 261 der Edition): „Ich machte dem König meinen Besuch als Consul & theilte ihm mit, daß ich ihn & alle chiefs morgen um 10 Uhr an Bord sehen wolle. Er will Wright durchaus nicht weghaben, sondern scheint im Gegenteil sehr zu bedauern, daß nun Cole allein bleiben wird. Gesteht ein, gegen sein vor Ed. (= Eduard Hernsheim, der Bruder) gemachtes Versprechen Cole die Erlaubnis gegeben zu haben, hier zu landen. Will nun sehen, was morgen vermittelst Angst fertig bringen kann.“ (Kursivsetzung im Original)

Mit der ausdrücklichen Erwähnung, dass er den Besuch „als Consul“ gemacht habe, nimmt Hernsheim eine Regelung vorweg, die Bismarck bei der Vereinnahmung der Südsee-Inseln als Kolonien ab 1884 erließ, nach der die Handelshäuser, die sich auf den als „Schutzgebiete“ bezeichneten Inseln niedergelassen hatten, deren Verwaltung in eigener Regie und Verantwortung vorzunehmen hätten, was die Händler vor Ort dann oft als die Möglichkeit zur Ausübung einer uneingeschränkten Gewaltherrschaft interpretierten. Mit der anschließend von Hernsheim im Tagebuch geäußerten Absicht, am anderen Tag vermittelst Angst etwas fertig zu bringen, ist er dann auch erfolgreich, denn es gelingt ihm, die einheimischen Herrscher auf der Insel zu einer Art Reparationen-Zahlung in Form von mehreren Tonnen Kopra zu zwingen. Diese Forderung ergänzt er dann noch durch die Bestimmung, dass dann, wenn am Jahresende die verlangte Menge Kopra nicht bereit läge, ein großer Teil der Insel an ihn als Eigentum übertragen werden müsse. Bei den im Zitat erwähnten „Wright“ und „Cole“ handelt es sich wohl ursprünglich um Händler- und Kapitäns-Konkurrenten der Brüder Hernsheim, die diese zunächst auszuschalten wünschten dann aber in ihren Dienst nahmen.

Dass er die oben genannten Forderungen, deren Berechtigung offensichtlich von ihm gesetzt bzw. mit für die Einwohner der Insel Kusaie nur schwer nachvollziehbaren Nachweisen konstruiert wurden, einfach durchsetzen konnte, ergab sich aus der auch schon vor dem offiziellen Beginn der deutschen Kolonisierung der Südsee-Inseln im Jahr 1884 einsetzenden Unterdrückung der Inselbevölkerungen mit Hilfe sogenannter „Strafexpeditionen“, die von Kriegs-Schiffen verschiedener europäischer Staaten und der USA ausgeführt wurden. Deren Einsätze konnten skrupellose Geschäftsleute wie die Brüder Hernsheim von ihren Regierungen einfordern und die Durchführungsformen weitgehend beeinflussen. Was Franz Hernsheim in den Verhandlungen mit dem König der Insel Kusaie und seinen Chiefs vermittelst Angst fertig bringen wollte, beruhte vermutlich auf diesem Mechanismus.

Von diesem Punkt aus kann nahtlos die Rezension des inzwischen wohl zum Bestseller gewordenen Buches von Götz Aly über „Das Prachtboot“ und darüber „Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten“ angeschlossen werden, da er darin in besonders anschaulicher Weise den Mechanismus der Strafexpeditionen schildert. In einem der beiden Klappentexte fasst der Verlag den Inhalt des Buches folgendermaßen zusammen: „Götz Aly deckt auf, wie brutal Deutsche in der Südsee auf Raubzug gingen. So auch auf der Insel Luf: Dort zerstörten sie Hütten und Boote und rotteten die Bewohner fast vollständig aus. 1903 rissen Hamburger Händler das letzte, von den Überlebenden kunstvoll geschaffene, hochseetüchtige Auslegerboot an sich. Heute beeindruckt das weltweit einmalige Prachtstück im Berliner Humboldt Forum. Götz Aly dokumentiert die Gewalt und Gier, mit der Geschäftemacher, Ethnologen und Marinesoldaten über die Kulturschätze herfielen. Das Publikum soll sie bestaunen – erfährt aber wenig vom Leid der ausgeraubten Völker.“

In diesen wenigen Sätzen werden drei der vier interagierenden Personengruppen benannt, deren Aktivitäten den Stoff abgeben, aus dem Aly seine Schilderung eines Teils der deutschen Kolonialgeschichte und deren Nachwirkungen speziell im nun (Stand Herbst 2021) teilweise fertiggestellten Humboldt Forum kunstvoll entwickelt. Unter den Hamburger Händlern bzw. Geschäftemachern sind die Brüder Hernsheim und leitende Angestellte ihrer Firma Hernsheim und Co. zu verstehen. Sie schafften es, gemäß der Vorstellungen und Annahmen von Götz Aly sich das im Mittelpunkt von dessen Buch stehende hochseetüchtige Auslegerboot von der Insel Luf ohne eine nennenswerte Gegenleistung anzueignen und für 6.000 Mark der damaligen deutschen Währung an das Berliner Völkerkunde-Museum zu verkaufen.

Die Insel Luf ist Teil einer unter dem Namen Hermit-Islands bekannten Insel-Gruppe, die im Nordwesten des Bismarck-Archipels liegt. Über Luf ist sowohl in mehreren Primärquellen als auch in der Sekundärquelle der von Jakob Anderhandt verfassten, oben genannten Biographie über Eduard Hernsheim für den hier interessierenden Zeitraum ausführlich berichtet worden. Sie wurde rund 20 Jahre bevor Vertreter der Firma Hernsheim sich das von Götz Aly Prachtboot genannte Auslegerboot für den Verkauf an ein deutsches Völkerkunde-Museum beschafften zum Schauplatz einer der besonders brutalen Strafexpeditionen, die von den Besatzungen zweier Kriegsschiffe der Kaiserlichen Marine ausgeführt wurde. Angefordert wurde die Strafexpedition von Eduard Hernsheim, und zwar nach den von Aly herangezogenen Quellen durch direkte Einflussnahme auf den Reichskanzler Fürst Bismarck.

Götz Aly ist in seinem Buch unter der Überschrift „1882: Das deutsche Massaker auf Luf“ eine beeindruckende Schilderung von diesem wohl schrecklichsten der vielen düsteren Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte in der Südsee gelungen. Auch wenn er für seine Quellen-Recherche auf sehr gute frühere Veröffentlichungen wie die oben schon genannte Biographie von Jakob Anderhandt (2012) über Eduard Hernsheim zurückgreifen konnte, beeindruckt es besonders, wie er präzise die wesentlichen Quellen heranzieht und deren Zitierung mit einer von ihm perfekt beherrschten journalistischen Darstellungsweise zu kombinieren versteht. Die Stärke und besonders effektive Informations-Vermittlung von Alys Buch entsteht aus dieser suggestiven Kombination. Dieses Lob gestatte ich mir unter dem Eindruck, den die Offenlegung der Mentalität mir verschaffte, von der aus Franz Hernsheim die brutalen Möglichkeiten des Kolonialismus ausnutzen wollte und offenbar auch konnte. In Parenthese sei hinzugefügt, dass Aly im Einleitungskapitel selbst darauf hinweist, er habe ursprünglich daran gedacht, sein Thema nur in einem ausführlicheren journalistischem Artikel zu behandeln, eine Absicht, die er dann zusätzlich mit dem im Kopf der Rezension genannten und terminlich gezielten Artikel (Anm. 4) im Feuilleton der F.A.Z. vom 20. September 2021 verwirklichte.

Die Kehrseite von Alys durch den Journalismus geprägten Stil zeigt sich bei seiner Beschreibung und Beurteilung der dritten in dem oben zitierten Klappentext genannten Personengruppe, den Ethnologen. Unter der Kapitelüberschrift „Ethnologie, ein Kind des Kolonialismus“ wendet er sich diesen zu. Dazu sei angemerkt, dass Katja Geisenhainer (2021) in sehr ausführlicher Form zu dem Vorwurf Stellung genommen hat, der in der zitierten Metapher steckt. Dabei hat sie mit Hinweisen auf eine Reihe Belege aus der Fachgeschichte der Ethnologie die absolute Gültigkeit dieser Beziehung überzeugend in Frage gestellt. Ihre und eine Reihe weiterer Stellungnahmen und Rezensionen des Buchs von Aly, die von Ethnologen und Ethnologinnen stammen und die zum Teil mehr den Charakter von Erwiderungen und zutreffenden Widerlegungen der Behauptungen von Aly haben, sollen am Schluss in einer Besprechung der Rezensionen vorgestellt werden. Alys einleitender Absatz zum oben zitierten Kapitel lautet (p. 101): „Adolf Bastian, Felix von Luschan, Otto Dempwolff, Augustin Krämer, Emil Stephan und Georg Thilenius hatten Medizin studiert und waren Ärzte, meist solche der Kaiserlichen Kriegsmarine. Auf den damit verbundenen Eroberungs- und Kolonialreisen begannen sie, sich für allerlei fremdartige Erscheinungen zu interessieren. Nach einiger Zeit fingen sie an zu sammeln, zu zeichnen, zu fotografieren und aufzuschreiben. Hatten sie dies mehrere Jahre getan und ihre Lust am Dienst in der Marine verloren, nannten sie sich Ethnologen, Völkerkundler oder Sprachforscher.“

Das ist sicher schmissiger Journalismus. Allerdings riskiert der Autor mit dem letzten Satz, wenn er denn als Kennzeichnung der Entstehungsgeschichte der deutschen Ethnologie oder auch nur der deutschen Ethnographie der Südsee-Inseln gemeint sein sollte, darüber einfach nur eine Unsinns-Aussage zu machen. Fallstricke ergeben sich beim nur journalistischen Schreiben aus zu großer Oberflächlichkeit bei der Recherche. So schreibt Aly (p. 101f.): „Während der anfangs als Liebhaberei betriebenen Studien (nämlich der ethnographischen Studien Krämers) assistierte ihm (Krämer) 1897 der etwas jüngere Marinearzt Georg Thilenius, dessen ethnologische Erweckung noch ausstand.“ Hier schreibt Aly einfach nur drauflos, denn die Rolle eines Marinearztes hat Thilenius nie eingenommen. Sie ist eine reine Erfindung von Aly!

Thilenius konnte deshalb in einer solchen Rolle auch nicht Krämer assistieren. Er hatte zwar Medizin studiert und hatte sich 1896, also dem Jahr vor dem zufälligen Zusammentreffen der beiden Forscher auf den Hawaii-Inseln, im Fach Anatomie an der Universität Straßburg habilitiert, war aber längst in dem zusätzlich von ihm betriebenen Fach Zoologie weit aktiver und offenbar als sehr produktiver Wissenschaftler anerkannt, denn er wurde bereits im Jahr 1897 in die Leopoldina gewählt, um schließlich 1900, dem Jahr, in dem er seinen wissenschaftlichen Horizont nicht unwesentlich bei ethnographischen Forschungen erweitert hatte, zum außerordentlichen Professor für Anthropologie und Ethnologie an die Universität Breslau berufen zu werden. Seine zoologischen Forschungen, die ihn im Anschluss an seine Aufenthalte auf Hawaii und auf den Samoa-Inseln nach Neuseeland führten, waren an die Berliner (Preußische) Akademie der Wissenschaften gebunden. Thilenius war also von ähnlicher Beweglichkeit sowie Produktivität in seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten wie der von Aly bewunderte Felix von Luschan, auf den gleich einzugehen sein wird.

Die von Aly gewählte Metapher, die Ethnologie sei ein Kind des Kolonialismus, lässt sich konkretisieren und kann damit den Hinweis erlauben, dass Kinder sich einerseits ihre Eltern nicht aussuchen können, sie aber andererseits in ihrer weiteren Entwicklung die Möglichkeiten haben, entweder gegen eben diese Eltern zu rebellieren oder sich deren Interessen zu unterwerfen. Beide Möglichkeiten kamen in der deutschsprachigen Ethnologie zum Tragen, und zwar auch soweit die Ethnographie der Südsee-Inseln betroffen war. Es kam dabei allerdings auch zur Verbindung beider Möglichkeiten durch jeweils die selbe Person, wenn wir uns im Sinne des obigen Vorschlags einer Konkretisierung die in der Südsee ethnographische Studien treibenden Ethnologen als die Kinder aus Alys Metapher vorstellen.

Eben hierauf bezogen muss Aly (p. 105 f.) selbst eingestehen, dass Felix von Luschan, dem eigentlich seine Kritik gelten sollte, weil er derjenige war, der das Prachtboot von der Insel Luf begeistert in die Sammlung des Berliner Völkerkundemuseums aufnahm allerdings zugleich die Auswirkungen des Kolonialismus auf die Bevölkerungen der Südsee-Inseln auf das Schärfste verurteilte (p.46), bei eingehender Betrachtung als einer der „anregenden, interdisziplinär orientierten Gelehrten“ anzusehen sei, der „zu den mit Abstand beweglichsten Geistern seines Faches (gehörte)“. In der Tat hatte von Luschan neben seinem mit der Promotion beendeten Studium der Medizin auch ein Studium der Philosophie absolviert und mit einer zweiten Promotion abgeschlossen. Und eine solche Aufgeschlossenheit für das Studium weiterer Wissenschaften zeichnete nicht nur von Luschan aus, sondern für die Mehrzahl der von Aly aufgezählten Pioniere im Bereich der Ethnographie Ozeaniens galt Gleiches. Bastian studierte neben der Medizin noch Rechtswissenschaften und allgemein Naturwissenschaften, Krämer ergänzte sein Medizinstudium mit den Fächern Zoologie sowie Geologie und auch Thilenius wählte die Zoologie als zusätzliche Disziplin, in der er sich als Wissenschaftler profilieren konnte.

Es ist kein Zufall, dass diese vier Persönlichkeiten, die sehr bald ihre wissenschaftlichen Interessen jeweils weit über ihre Grundqualifikation als Mediziner hinaus ausdehnten, alle in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina gewählt wurden, eine Ehrung, die auch in ihrer Zeit besonders hoch angesehen war. Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass die Namen von allen sechs genannten Wissenschaftlern zumindest im Fach Ethnologie auch heute noch geläufig sind und sie sich alle zusätzlich zu den schon genannten anderen Wissenschaften, die sie formal studieren konnten, autodidaktisch in die Ethnologie bzw. im Fall von Otto Dempwolff in die Sprachwissenschaft eingearbeitet haben. Für die Ethnologie gilt es in der Kritik an solchen schmissigen Äußerung wie der von Aly darauf hinzuweisen, dass sie sich zwar begriffs- und ideengeschichtlich bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Rahmen der deutschen Aufklärung entwickelt hat (Anm. 5), jedoch in den Kreis der an Universitäten gelehrten Fächer als eigenständige Disziplin erst vom Beginn des 20. Jahrhunderts an aufgenommen wurde. Wer wie die von Götz Aly aufgezählten Wissenschaftler die im Fach Ethnologie autodidaktisch erworbenen Kenntnisse als Beruf ausüben wollte, konnte dies in den Jahrzehnten davor nur durch die Anstellung in einem der in dieser Zeit entstehenden Museen für Völkerkunde erreichen.

Das Berliner Völkerkundemuseum (heute: Ethnologisches Museum) war nicht nur in der hier verhandelten Zeit das größte seiner Gattung, sondern es hat diese Position nach der Zahl der in den dortigen Sammlungen vorhandenen Objekte bis in die heutige Zeit behalten. Damit wären wir bei der vierten Personengruppe, die in den kritischen und mitunter gern ins Polemische verfallenden Auseinandersetzungen von Götz Aly eine Rolle spielt, und zwar in Bezug auf die Geschehnisse, die sich historisch und aktuell um das Prachtboot von der Insel Luf ranken und das nun aus der Abgeschiedenheit des Berliner Stadtteils Dahlem, der bisherigen Heimat des Museums und seiner Sammlungen, ins Zentrum der Hauptstadt Deutschlands gerückt wird. Die Idee dazu wurde im Jahr 2000 in der für die Berliner Museumslandschaft zuständigen Stiftung Preußischer Kulturbesitz von dessen damaligen Präsidenten Klaus-Dieter Lehmann vorgegeben, der seinen Vorschlag offenbar mit solcher Vehemenz vortrug, dass seinem Nachfolger Hermann Parzinger keine Möglichkeit blieb, diese Erbschaft zu ignorieren (Anm. 6).

Besagter Hermann Parzinger ist es dann auch, dem mitunter stellvertretend für die Mitarbeiter des Museums, denen es obliegt, die Idee des Vorgängers im Präsidenten-Amt in praktischer Arbeit umzusetzen, Alys kritische Ausführungen gelten. Diese umfassen allerdings schon bald die gesamte Szene der ehemals als Museen für Völkerkunde bekannten Institutionen. Mit einigem Sarkasmus beschreibt Aly den seit dem Ende des letzten Jahrhunderts einsetzenden Eifer, mit dem für diese Museumsgattung Verantwortliche sich darum bemühen, neue Namen für ihre Häuser zu finden. Dabei sind sie offenbar bestrebt, in einer Art verbalen Mimikry die inzwischen als ominös empfundene Bezeichnung Völkerkunde zu überdecken.

Allerdings beschränkt Aly seine Attacken gegen die heutigen in den Museen tätigen Ethnologen und Ethnologinnen nicht auf diese Art von Äußerlichkeiten, wenn diese bemüht sind, Wege für eine sinnvolle Zusammenarbeit mit den Nachfahren der im Kolonialismus beraubten Gesellschaften mit dem Bewahren der ihnen anvertrauten Sammlungen in Einklang zu bringen. Als in polemischen Auseinandersetzungen geübt gelingt es ihm, in vielen Bloßstellungen von Begriffen, die in jenem diffizilen Feld gebildet wurden, diese als verbale Vernebelungen kenntlich zu machen. Dabei ist er ganz und gar in seinem journalistischen Element. Eine besondere Freude dürfte ihm das von Parzinger, aber auch von anderen an der Bewältigung der Problematik wortschöpferisch beteiligten Akteuren geschaffene Vokabular für die Pointe am Schluss seines Artikels im Feuilleton der F.A.Z. vom 20. September 2021 bereitet haben. In dieser macht er sich den Topos einer Umkehrung der Verhältnisse zu eigen und setzt an die Stelle des Berliner Museums dasjenige des Staates Papua-Neuguinea in dessen Hauptstadt Port Moresby, von dem die Direktorin des Städtischen Museums in Rothenburg ob der Tauber ein Fragment von den Werken Tilman Riemenschneiders erbitten muss. Dieses erhält sie schließlich nach einem langwierigen und zähen Prozess mit einem Kommentar versehen, der sich aus dem Schwulst des oben genannten Vokabulars zusammensetzt.

Den Erfolg bei seinem Publikum, der ihm mit diesem Coup wahrscheinlich gelungen ist, könnte dem Autor gegönnt werden, stünden dem nicht die falschen Angaben und nur dem journalistischem Effekt geschuldeten Behauptungen entgegen, die in der Öffentlichkeit ein völlig verzerrtes Bild des Zusammenhangs entstehen lässt, der zwischen den Museen für Völkerkunde und den im Kolonialismus durchgeführten ethnographischen Forschungen in der Südsee bestand. In einem etwas ausführlicheren Fazit ergibt sich mittlerweile hierzu folgendes Bild.

Nach dem Erscheinen von Götz Alys Publikation über Das Prachtboot sind eine Fülle von Rezensionen und Erwiderungen als Beiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften sowie als Feuilleton-Artikel in Tages- und Wochenzeitungen erschienen, die sich in zwei höchst konträre Gruppen teilen lassen. Die von Journalisten für die Feuilletons ihrer Zeitungen verfassten Rezensionen folgen inhaltlich in der Regel der von Aly gewählten Beschreibung der hemmungslosen Gewalttätigkeit der deutschen Kolonialisten gegenüber den kolonisierten Südsee-Einwohnern. Dabei übernehmen sie kritiklos die von Aly vorgegebene äußerst krude Logik, dass, weil während der von Deutschen ausgeübten Kolonial-Herrschaft Gewalttätigkeiten und Ausbeutung der auf den Südsee-Inseln Kolonisierten dominiert hätten, dieses Verhalten mit Selbstverständlichkeit auch bei der Beschaffung des von Aly Prachtboot genannten Auslegerboots von der Insel Luf der Fall gewesen sei.

Kurze Zitate aus zwei solcher Rezensionen können als Beispiele diese Form einer Zustimmung zu den Ausführungen von Aly illustrieren. Die Überschrift der Rezension, die in der F.A.Z. vom 7. 5. 21 erschienen ist, lautet bereits: „Von Kunsträubern und Kulturschändern“ und im Vorspann fährt der Autor Andreas Kilb fort „Das Luf-Boot ist das ethnologische Prachtstück des Humboldt-Forums. Angeblich wurde es wie die meisten Objekte der Berliner Südsee-Sammlung auf faire Weise erworben. Der Historiker Götz Aly zeigt, dass das nicht stimmt.“ In der Neuen Zürcher Zeitung vom 19. 5. 21 lauten der Titel „Raubkunst in Deutschland: Wie das 'Luf'-Boot nach Berlin kam“ und der Vorspann „Das 'Luf'-Boot soll ein Prunkstück des Humboldt-Forums werden. Doch hinter seiner Herkunft steckt ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte“. Gegen Schluss der Rezension schreibt der Autor Thomas Ribi: „So viel steht fest: Das 'Luf'-Boot ist ein Stück koloniales Raubgut“.

Es gibt aber auch Übergänge zur Gegenposition, in der Fachleute aus der Ethnologie sich zu Wort melden. So findet sich in der Zeitschrift „Museum aktuell“, und zwar in deren Nummer 272 aus dem Jahr 2021 (p. 8-9) eine Besprechung mit dem Titel „Götz Alys Buch 'Das Prachtboot' offenbart die dunkle Geschichte des Luf-Bootes“. Verfasser ist Kai Artinger, der, nachdem er Alys Position, was die Verurteilungen der an den Transaktionen um das Luf-Boot Beteiligten angeht, weitestgehend übernommen hat, gegen Schluss seines Textes konzidiert (p. 9): „Auch wenn man Aly vielleicht nicht in allen Argumenten und Überlegungen folgen möchte – insbesondere die Provenienzforschung in kolonialen Kontexten könnte sich wegen mancher Zuspitzung und Verallgemeinerung an eventuell fehlender Differenzierung stoßen - ...“

Genau dies tun die betroffenen und dabei entschieden besser informierten Fachleute in der Tat. So hat Brigitta Hauser-Schäublin, emeritierte Professorin des Göttinger Instituts für Ethnologie und damit auch ehemalige Chefin der bedeutendsten ethnologischen Universitäts-Sammlung in Deutschland, in einem Artikel im Feuilleton der „Zeit“ vom 15. Juli 2021 mit dem Haupttitel „Warum das Luf-Boot im Humboldt-Forum bleiben kann“ nach einer gründlichen Recherche der zeitnahen Berichte zu der von Götz Aly behaupteten „Enteignung“ des Bootes festgestellt: “Die Quellen lassen den Schluss, den Aly bezüglich des Erwerbs des Luf-Bootes gezogen hat, nicht zu. Das 'Prachtboot' wurde nicht 'enteignet'. Alle Indizien sprechen für Handelseinigkeit zwischen Verkäufern und Käufern.“ Dieser Argumentation schließt sich in einer eigenen Rezension, die in der in Australien herausgegebenen Fachzeitschrift „The Journal of Pacific History“ erschienen ist, der mit der hier verhandelten Materie bestens vertraute und hier schon mehrfach erwähnte Jakob Anderhandt (2022) vollinhaltlich an.

Um diese Besprechung von zwei aufeinander beziehbaren Büchern nicht unnötig zu verlängern sei für weitere Rezensionen mit dem gleichen Tenor zum Prachtboot-Buch von Götz Aly auf die angefügte Literaturliste verwiesen. Dabei muss jedoch die Literaturangabe des September-Heftes von 2021 der Zeitschrift „Rotary“ mit dem Titelthema „Alles nur geklaut? Das Berliner Humboldt-Forum zeigt erste Objekte aus den ethnographischen Sammlungen“ als besonders wichtig hervorgehoben werden. Mit insgesamt 23 Beiträgen, die nahezu alle sehr beachtenswert sind, spiegelt sich darin die mit großer Verve geführte Debatte über den Zusammenhang zwischen dem deutschen Kolonialismus und den in den deutschen Museen für Völkerkunde in dieser Zeit zusammengetragenen Sammlungen, die scheinbar von zwei im Jahr 2021 erschienen Büchern bestimmt wurde, dem schon genannten von Götz Aly über „Das Prachtboot“ und dem bereits davor erschienenen Buch von Benedicte Savoy über „Afrikas Kampf um seine Kunst: Geschichte einer postkolonialen Niederlage“.

Tatsächlich ist es aber umgekehrt. Die öffentliche Meinung stand in dieser Frage längst vor dem Erscheinen jener Bücher fest, und zwar mit dem dominanten Tenor, dass im Kolonialismus wirklich alles in den ethnologischen Museen Gesammelte nur geklaut sein konnte. Diesem Denken hatten die Museen, wenn auch ungewollt, selbst mit ihrem Eifer Vorschub geleistet, sich durch immer phantasievollere Neubenennungen ihrer Häuser mit Hilfe der Streichung des Titels „Völkerkunde“ von der Kontamination durch den Kolonialismus zu befreien, was aber letztlich doch nicht gelang. Sowohl Savoy als auch Aly mussten nur noch diese Stimmung aufnehmen, um vor allem im Fall des Buchs von Aly trotz vieler abstruser und mit falschen Behauptungen gespickter Ausführungen einen Erfolg zu erzielen.

Anmerkungen:

1) Das Werk hat den Titel: „Eduard Hernsheim, die Südsee und viel Geld. Biographie“. Es wurde vom Verfasser der vorliegenden Doppelrezension in der Zeitschrift „TRIBUS. Jahrbuch des Linden-Museums“ Nr. 63 – Oktober 2014, pp. 202-204 besprochen und dabei sein hoher Informationswert für an der Wirtschafts- und Kolonialgeschichte der Südsee-Inseln sowie deren Ethnographie Interessierte hervorgehoben.

2) Für die Veröffentlichung seines von ihm selbst illustrierten Buches „Südsee-Erinnerungen“ hat Franz Hernsheim den Forschungsreisenden, Ornithologen und Ethnologen Dr. Otto Finsch (1839-1917) um ein Vorwort gebeten, das dieser auf wenige Zeilen reduziert auch beisteuerte und das er mit der Jahreszahl 1883 versah, so dass diese Jahreszahl wohl auch als das Erscheinungsdatum des Buches anzusetzen ist. Otto Finsch hatte Franz Hernsheim bei dessen Reise nach Kusaie begleitet.

3) In der Edition des Tagebuchs lautet die korrespondierende Passage folgendermaßen: „Sie sind vollständige Kinder & werden es für den kurzen Rest ihrer Existenz wohl auch trotz Weißer und Mission bleiben. Freundlich, gutherzig, ohne Arg, alle ziemlich gut Englisch sprechend, mit einem dünnen Überzug von Kenntnissen oder richtiger von Namen (Länder, Personen, Zahlen etc.), aber ohne Begriff davon, ohne Verständnis, ohne Gedächtnis, ohne Auffassungsvermögen, ohne Tradition, ohne alte Gebräuche, ohne selbst nur Musik, Instrumente & Tänze. Sie leben in diesem Paradiese sorglos dahin & werden jedenfalls binnen Kurzem dies prachtvolle Land zur Ausnutzung an Fremde abgeben müssen.“

4) Terminlich gezielt war der Artikel von Götz Aly durch den Umstand, dass er das Erscheinungsdatum auf den Tag gelegt hat, an dem der erste große Teil der Ausstellung von Ethnographica aus dem Berliner Ethnologischen Museum mit der diesem Ereignis gemäßen Feierlichkeit eröffnet wurde. Dies schloss die vorher in Dahlem ausgestellten Boote aus der Südsee ein.

5) In der Fachgeschichte der Ethnologie wird der Beginn einer allgemeinen Einführung der Begriffe Ethnographie und Ethnologie sowie Völkerkunde in den Kanon der Wissenschaften jener Zeit auf den Göttinger Historiker August Ludwig von Schlözer (1735 – 1809) zurückgeführt, in dessen Werken von 1771 und 1772-75 zur regionalen Geschichtsschreibung sowie zur Weltgeschichte sich der Hinweis auf eine „ethnographische Methode“ als wichtig für seine Ausführungen wiederholt findet. Wie Han Vermeulen in seinem Opus Magnum „Before Boas. The Genesis of Ethnography and Ethnology in the German Enlightenment“ (2015) herausgearbeitet hat, gibt es begriffs- und ideengeschichtliche Vorarbeiten zu diesen Wissenschaftszweigen, die um das Jahr 1740 ihren Niederschlag aber nur in Manuskripten fanden. Diese glücklicherweise erhaltenen und erst in jüngerer Zeit veröffentlichten Manuskripte stammen von dem ebenfalls der deutschen Aufklärung zugerechneten Historiker und Geographen Gerhard Friedrich Müller (1705 – 1783). Sie entstanden als Müller im Auftrag der Russischen Akademie der Wissenschaften seine Forschungen über die Völker des gerade von Russland aus besetzten Sibiriens durchführte. Damit war auch für diese Forschungen ein kolonialer Bezug gegeben.

6) Die Idee des Vorgänger-Präsidenten in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann, wurde, als sie in die breitere Öffentlichkeit gelangt war, verständlicherweise vor allem unter den an der Arbeit der Museen für Völkerkunde Beteiligten mit größtem Interesse diskutiert. Als Beispiel dafür sei auf einen Beitrag von Dieter Kramer aus dem Jahr 2003 verwiesen, der den folgenden aussagekräftigen Titel trägt: „Ethnologie im Zentrum. Überlegungen zur Relevanz ethnologischer Museen am Beispiel des Vorschlags der Verlagerung der Berliner Völkerkundlichen Sammlungen auf den Berliner Schlossplatz“. Der Autor, der als Wiener außerordentlicher Professor für Europäische Ethnologie und Oberkustos am Museum der Weltkulturen in Frankfurt am Main vor allem auf seine großen Erfahrungen, die er in der Kulturpolitik dieser Stadt hat sammeln können, hinweist, kommt bei Abwägung vieler Probleme, die der Vorschlag von Lehmann beinhaltet, zu einem eher ambivalenten Ergebnis. Wie sich inzwischen gezeigt hat, war die darin zumindest implizit enthaltene Mahnung zur Vorsicht wohl berechtigt.

Literatur

  • Aly, Götz: Kanonenboote als Sammler. Viele Objekte aus der Südsee-Sammlung, die künftig im Humboldt-Forum zu sehen sind, wurden auf Strafexpeditionen geraubt. Aber die Staatlichen Museen zu Berlin verschleiern ihre Herkunft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Sept. 2021, p. 15
  • Anderhandt, Jakob: Eduard Hernsheim, die Südsee und viel Geld. Biographie.
  • 2 Bde., Münster: MV-Verlag, 2012

  • Ders.: Book Review: Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten. By Götz Aly. Frankfurt/Main, S. Fischer, 2021. In: The Journal of Pacific History, 2022 (Korrekturfahnen-Druck)
  • Artinger, Kai: Rezension: Götz Alys Buch „Das Prachtboot“ offenbart die dunkle Geschichte des Luf-Bootes. In: Museum aktuell, Nummer 272, Jg. 2021
  • Geisenhainer, Katja: Ein Kind es Kolonialismus? Zur Darstellung der Ethnologie in Götz Alys Buch „Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten“ (2021). In: PAIDEUMA. Zeitschrift für kulturanthropologische Forschung. Bd. 67, 2021, pp. 193-209
  • Harms, Volker: Rezension von Jakob Anderhandt 2012. In: TRIBUS. Jahrbuch des Linden-Museums Nr. 63 – Oktober 2014, pp. 202-204
  • Hauser-Schäublin, Brigitta: Warum das Luf-Boot im Humboldt-Forum bleiben kann. (Antwort) auf Götz Aly: Viel spricht dagegen, dass das „Prachtboot“ in der Südsee enteignet wurde. In: Die Zeit, No. 29, vom 15. Juli 2021
  • Dies.: Der vergessene Wissensspeicher. Ethnologische Artefakte sind nicht nur Raub- oder Beutegut, sondern Archive von kulturellen Techniken und Kenntnissen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton vom 12. Januar 2022
  • Hernsheim, Franz: Südsee-Erinnerungen. Mit einem Vorwort von Otto Finsch, Berlin 1883
  • Kilb, Andreas (Rez.): Götz Alys Buch zum Südsee-Boot. Von Kunsträubern und Kulturschändern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 04. 2021
  • Kramer, Dieter: Ethnologie im Zentrum. Überlegungen zur Relevanz ethnologischer Museen am Beispiel des Vorschlags der Verlagerung der Berliner Völkerkundlichen Sammlungen auf den Berliner Schlossplatz. In: Michael Kraus und Mark Münzel (Hrsg.): Museum und Universität in der Ethnologie (Curupira Workshop, Band 8) Marburg 2003, pp. 117-128
  • Lehmann, Klaus-Dieter: siehe Stiftung Preußischer Kulturbesitz 2000
  • Mückler, Hermann (Rez.): Das Prachtboot. In: Pazifik-Rundbrief, Nr. 125, vom September 2021, Herausgeber: Pazifik Informationsstelle
  • Müller, Gerhard Friedrich (1740): Instruction was zu Geographischen und Historischen Beschreibung erfordert wird für den H(err) Adjunctum Joh(ann) Eberh(ard) Fischer. (Ms.;Siehe Müller 1900 in Russow 1900, pp. 37-83, 84-109)
  • Russow, Fr.: Beiträge zur Geschichte der ethnographischen und anthropologischen Sammlungen der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg. St. Petersburg: Akademia Nauk/Académie Impérial des Sciences, 1900, pp. 37-109
  • Savoy, Benedicte: Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage. München, C.H. Beck, 2021
  • Schlözer, August Ludwig: Allgemeine Nordische Geschichte. Fortsetzung der Algemeinen Welthistorie der Neueren Zeiten (…) Dreyzehnter Theil. Halle: Johann Justinus Gebauer (Algemeine Welthistorie, vol. 31: Historie der Neuern Zeiten, vol. 13.) 1771
  • Ders.: Vorstellung seiner Universal-Historie. Göttingen und Gotha: Johann Christian Dieterich. Vol. 2, Göttingen: Johann Christian Dieterich 1773 (2. Auflage, 1775)
  • Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Ms.) Konzept des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz für die Schlossplatz-Bebauung in Berlin-Mitte. Berlin: 10. Oktober 2000. O.S.
  • Vermeulen, Han: Before Boas. The Genesis of Ethnography and Ethnology in the German Enlightenment. Lincoln & London: University of Nebraska Press, 2015
  • Zeitschrift „Rotary“, September-Ausgabe 2021, mit Titelthema: „Alles nur geklaut? Das Berliner Humboldt-Forum zeigt erste Objekte aus den ethnographischen Sammlungen“