Autonomie oder Unabhängigkeit für Rapa Nui ?

15.06.2004: Die vergessene kleine polynesische Insel mit den Statuen sucht nach Wegen sich von der chilenischen Kolonialherrschaft zu befreien

Ein tiefgründiger Reisebericht von Lorenz Gonschor

Während meines diesjährigen Aufenthaltes in Tahiti, während dem ich das dortige Wahlwunder intensiv erlebte (siehe meinen Artikel zuvor), flog ich Mitte Juni für eine Woche nach Rapa Nui (im Kolonialjargon "Osterinsel" genannt, nach einem blutrünstigen holländischen Kapitän, der sie am Ostertag 1722 angelaufen und gleich darauf ein Massaker an der Bevölkerung angerichtet hatte), um auch diese Insel kennen zu lernen. Über meinen tahitischen Freund Gabi und meinen hawaiischen Freund Kekuni war ich mit Vertretern der Unabhängigkeitsbewegung Rapa Nuis in Kontakt getreten und erhielt eine Einladung, im Hotel Orongo, das dem Vorsitzenden der Bewegung gehört, zu wohnen. Auch wenn eine Woche bei weitem nicht genug war, um die Insel von all ihren Seiten kennen zu lernen, so erhielt ich doch einige Einblicke in das dortige Leben, insbesondere was die politische Situation betrifft.

Von allen Kolonialgebieten des Pazifiks ist Rapa Nui mit Sicherheit das isolierteste. Nicht allein nur aufgrund seiner geographischen Abgelegenheit (ca. 4 000 km von Tahiti, ca. 3 500 km von Chile und selbst noch ca. 2 000 km von Pitcairn, der nächsten bewohnten Insel), sondern vor allem wegen der Politik seiner Kolonialmacht Chile. Die Insel wurde praktisch vollkommen aus ihrem pazifischen Umfeld herausgerissen und dem ihr kulturell fremden Südamerika angegliedert. Die Einwohner wurden in doppelter Hinsicht eingesperrt, einmal physisch auf ihrer Insel und bildlich durch die Oktroyierung der spanischen Amtsprache, einer Sprache, die niemand sonst im Pazifik spricht, so dass jegliche Kommunikation mit dem restlichen Pazifik blockiert wurde. Tahiti hat als französische Kolonie zwar ähnliche Probleme der Kommunikation mit den englischsprachigen Nachbarn, aber mit Neukaledonien, Wallis und Futuna und teilweise Vanuatu gibt es immerhin einige andere Pazifikgebiete in denen französisch gesprochen wird, so dass kultureller Austausch mit anderen Pazifikinsulanern immerhin beschränkt möglich ist. All das fehlt Rapa Nui total. Diese Situation machte es auch für mich nicht einfach, mich auf der Insel zu verständigen, da ich kein Spanisch spreche. Allerdings sprechen viele jüngere Rapanui heute Englisch oder Französisch und die meisten älteren verstehen Tahitisch, was ich rudimentär spreche, so dass ich im Endeffekt doch mit den meisten Leuten wenigstens ein paar Worte wechseln konnte.

Für die meisten Leute ist Rapa Nui, oder besser gesagt sein Kolonialname Osterinsel, ein Synonym für Geheimnisse und Rätsel. Die Hunderte von moai (Steinstatuen) von gigantischen Ausmaßen (zwischen vier und elf Metern hoch, sowie zusätzlich auf mehreren Meter hohen ahu genannten Plattformen stehend und auf dem Kopf noch einen 1-2 Meter hohen pukao genanten Kopfputz tragend, siehe Foto),

Der ahu Tongariki mit fünfzehn moai

die sich über die kleine und karge Insel verteilen, geben Rapa Nui tatsächlich einen Flair von Gespenstigkeit. Gespenstisch ist allerdings nicht nur die archäologische Geschichte. Forscht man nach der kolonialen Vergangenheit Rapa Nuis, so stößt man auf die dunkelsten Kapitel der Kolonialgeschichte im Pazifik. 1862 wurde ein Großtel der Bevölkerung von Sklavenjägern nach Peru verschleppt, wo sie elend zu Grunde gingen. In den 1870er Jahren eignete sich dann ein französischer Abenteurer mit Gewalt und Terror das Land der Insel an und erklärte sich zum "König" der Insel, bis er schließlich von seinen "Untertanen" umgebracht wurde. Nachdem die Häuptlinge der Insel mehrmals vergeblich um die Annexion durch Frankreich gebeten hatten (nicht weil sie die Franzosen liebten, sondern um mit ihren polynesischen Verwandten in Tahiti unter der gleichen Kolonialmacht zu leben und somit nicht länger isoliert zu sein), handelten sie schließlich 1888 einen Vertrag mit Chile aus. Was aus chilenischer Sicht eine simple Annexion war, war nach Meinung der Rapanui ein klar definiertes gegenseitiges Abkommen: Während der Zeremonie wehte die Rapanui-Flagge an einem Mast oberhalb der chilenischen, somit wurde also die Souveränität nicht aufgegeben, sondern nur ein Vertrag geschlossen. Dann übergab Häuptling Atamu Tekena dem chilenischen Marineoffizier Policarpo Toro ein Büschel Gras, während er sich eine Handvoll Erde in die Tasche steckte. Damit war symbolisch gemeint: Chile hält Nutzungsrechte am Land, aber das Land selbst bleibt Besitz der Rapanui. Seitdem hat Chile dieses Abkommen ununterbrochen verletzt: 1895 wurde die gesamte Insel in eine Schaffarm umgewandelt. Die Rapanui wurden von ihrem angestammten Land vertrieben und die gesamte Bevölkerung in Hanga Roa, dem Hauptort,

Die Hauptstrasse in Hanga Roa

zusammengepfercht. Mit einem Stacheldrahtzaun umgeben, wurde Hanga Roa, einem Ghetto oder Konzentrationslager vergleichbar, für mehrere Generationen zum Gefängnis eines ganzen Volkes, während die Insel von mehr als 50 000 Schafen bevölkert wurde. Für jedes Verlassen des Ortes musste eine Sondergenehmigung des Militärgouverneurs eingeholt werden, weil die Manager der Schaffarm fürchteten, die im Elend ihrer Zwangssiedlung lebenden Rapanui könnten Schafe "stehlen" (eine paradoxe Formulierung, denn die Schafe weideten ja immerhin auf Land, das seinerseits den Rapanui gestohlen worden war !). Diese menschenverachtende Situation bestand bis Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, als die Rapanui unter der Führung des jungen Dorfschullehrers Alfonso Rapu Haoa einen Aufstand dagegen durchführten. Schließlich wurde der Zaun abgebaut, die Rapanui wurden chilenische Staatsbürger und durften sich frei auf ihrer Insel bewegen. Die Schaffarm wurde aufgelöst, doch ihr Land erhielten die Rapanui bis heute nicht zurück. Statt dessen wurde das Gelände der Schaffarm in den 70er Jahren aufgeteilt in den der chilenischen Forstverwaltung unterstehenden Nationalpark Rapa Nui entlang der Küste, und die Staatsfarm Vaitea, von der chilenischen Staatsgesellschaft SASIPA verwaltet, im Inneren der Insel.

Landschaft auf Rapa Nui

Jegliche Ansätze einer lokalen Selbstverwaltung und eigenständigen wirtschaftlichen Entwicklung, die sich in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren entwickelt hatten, wurden 1973 durch den Militärputsch und die folgende 16 Jahre währende faschistische Diktatur des Generals Pinochet wieder zunichte gemacht. Wie überall in Chile kam es zu willkürlichen Verhaftungen und Folterungen. Zunehmende Spannungen mit den Einheimischen veranlassten Pinochet dann allerdings 1984, zum ersten Mal einen Einheimischen zum Gouverneur zu ernennen, den Archäologen Sergio Rapu Haoa. Seitdem besteht die paradoxe Situation, dass die Gouverneure den chilenischen Staat repräsentieren sollen, aber gleichzeitig selbst Rapanui sind. Ende der 1980er Jahre entkrampfte sich die Situation dann ein wenig und schließlich wurde im Zuge der Demokratisierung Chiles Anfang der 90er Jahre auch auf Rapa Nui ein gewählter Gemeinderat wiederhergestellt und die Meinungsfreiheit ein wenig breiter. Im Laufe der 90er Jahre verbesserte ich die Situation der Menschen- und Bürgerrechte spürbar, aber die Grundübel des Kolonialismus und des Landraubes sind nach wie vor nicht beseitigt und die Rapanui fühlen sich weiterhin von Chile bevormundet.

Um Klagen über die derzeitige politische Situation zu hören, muss man noch nicht einmal die von chilenischer Seite als Extremisten eingestuften Unabhängigkeitsbefürworter fragen. Auch Petero Edmunds Paoa, seit 10 Jahren Bürgermeister der Insel

Petero Edmunds Paoa, Bürgermeister von Rapa Nui und Befürworter der Autonomie

, zögert nicht, das derzeitige politische System in deutlichen Worten zu verurteilen: "Wir sind eine Gemeinde in einer Provinz innerhalb der 5. Region Chiles [die Region der Hafenstadt Valparaiso]. In anderen Worten: Wir sind eine Kolonie Chiles, eine der letzten Kolonien auf der Welt". Anstelle ein an die Bedürfnisse der Insel angepasstes Verwaltungssystem zu schaffen, hat der chilenische Staat den Rapanui sein kontinentales System 1:1 übergestülpt, wodurch eine äußerst komplizierte Bürokratie geschaffen wurde. Der Bürgermeister: "Es gibt einen von Chile ernannten Provinzgouverneur und mich als gewählten Bürgermeister. Die beiden Verwaltungsebenen, Provinz und Gemeinde, sind für das gleiche Gebiet verantwortlich und überschneiden sich damit überall in ihren Kompetenzen. Wenn die beiden sich in einer Frage uneinig sind, blockieren sie sich gegenseitig. Das ist wirklich lächerlich." Zusätzlich zu diesen beiden lokalen Parallelverwaltungen gibt es noch zahlreiche Außenstellen von Ämtern der chilenischen Zentralregierung, so dass ein undurchschaubarer Dschungel von Bürokratie auf der Insel herrscht. Die Lösung dieses Problems, nach Meinung des Bürgermeisters, wäre die Schaffung eines Autonomiestatuts, mit einer einzigen Verwaltungsebene unter einem lokal gewählten Exekutivorgan, in direkter Abhängigkeit von der chilenischen Zentralregierung als überseeische Sonderregion, ohne den bürokratischen Umweg über Valparaiso.

Für eine andere Gruppe politischer Aktivisten geht dagegen der vom Bürgermeister ins Auge gefasste Autonomiestatus nicht weit genug. Sie fordern nicht mehr und nicht weniger als die vollständige Unabhängigkeit ihrer Insel von Chile. Angeführt von Juan Teave Haoa, einem 80-jährigen Aktivisten, der die gesamte harte Geschichte des Überlebenskampfes seines Volkes durchlebt hat, formierte sich die Unabhängigkeitsbewegung 2001 in Form des sogenannten Marae o te Unahi Renga (Rapanui-Parlaments). Hervorgegangen ist dieses aus einem Teil des Ältestenrates der Insel, in dem alle Familienoberhäupter vertreten sind. Dieser Rat, eine traditionelle Institution der Rapanui, war in den 1980er Jahren von den Aktivisten Alberto Hotus Teave und Juan Teave Haoa wiederbelebt worden, um die Identität und Kultur der Insel gegen das Pinochet-Regime zu verteidigen. Nach der Demokratisierung Chiles spaltete sich in den frühen 90er Jahren allerdings der Rat. Die Fraktion um Alberto Hotus begann mit den chilenischen Behörden zusammenzuarbeiten und akzeptierte das chilenische politische System, während die Fraktion um Juan Teave den Widerstand gegen die chilenische Regierung unvermindert fortsetzte. Während Chile 1993 ein "Gesetz für die Rechte indigener Minderheiten" verabschiedete, das nach einiger Verzögerung dann mit Zuspruch der Alberto-Hotus-Fraktion auch auf Rapa Nui zur Anwendung kam, hielten Mitglieder der von nun an als "Ältestenrat Nummer Zwei" bezeichneten Fraktion von Juan Teave von 1994 bis 1998 den Platz vor der Kirche in Hanga Roa besetzt, um für die vollständige Rückgabe allen Landes an die Rapanui zu demonstrieren. Von Unabhängigkeit sprach zunächst allerdings noch kaum jemand. Erst als Mitglieder des "Rates Nummer Zwei" Verbindungen zum restlichen Pazifik suchten und 1995 an der Versammlung von PIANGO (Pacific Islands Association of Non-Government Organisations) auf Moorea sowie 1999 an der NFIP (Nuclear Free and Independent Pacific)-Konferenz in Tahiti teilnahmen, bekam die Bewegung eine eindeutig unabhängigkeitsbefürwortende und panpazifische Orientierung. Im September 2001 schließlich geschah ein Zwischenfall, der die Bewegung mehr determinierte als alles andere zuvor: In einer Nacht- und Nebelaktion ließ die chilenische Regierung unter Beteiligung des Provinzgouverneurs Enrique Pakarati Ika mit Bulldozern zwei Häuser zerstören, die die Familie Teave auf dem ihr traditionell gehörenden Land errichtet hatte. Aus chilenischer Sichtweise war dieses Land aber Teil des Nationalparks und damit Staatseigentum, und somit handelte es sich um illegale Gebäude. Die Familie Teave und mehrere ihr nahestehende Aktivisten protestierten gegen diesen Akt staatlicher Willkür und waren nun mehr denn je davon überzeugt, Gerechtigkeit für ihr Volk nur durch die vollständige Trennung von Chile erlangen zu können. Juan Teave, seine Familie und zahlreiche Aktivisten des "Ältestenrates Nummer Zwei" gründeten daraufhin das Rapanui-Parlament, das seitdem unter der Präsidentschaft von Juan Teave regelmäßig tagt, um Gesetze zu beschließen und auf lokaler, chilenischer und internationaler Ebene Kontakte zu knüpfen, um die Unabhängigkeit Rapa Nuis voranzutreiben.

Im Gegensatz zu den Bemühungen des Bürgermeisters, ein Autonomiestatut im Rahmen des politischen Systems Chiles zu erlangen, sieht sich das Parlament als die Vertretung einer eigenständigen Nation, die von Chile kolonisiert wurde und seine Rechte als souveräner Staat auf internationaler Ebene einfordert. Erity Teave, Tochter von Juan Teave und Direktorin der Sektion für Menschenrechte sowie Sprecherin des Parlaments, verurteilt den Bürgermeister, der immerhin ihr Vetter ist, aufs schärfste: "Petero ist nicht anders als Flosse in Tahiti: Er kollaboriert mit der Kolonialmacht und regiert in einem korrupten System. Er ist ein Geschäftsmann, der das Spiel Chiles spielt. Er behauptet zwar, sich für sein Volk einzusetzen, aber in seinem Kopf ist er viel zu viel von Ideen aus Chile beeinflusst"

Auf diese Vorwürfe hin angesprochen, kontert der Bürgermeister: "Unabhängigkeit? Haben diese Leute mal richtig nachgedacht was Unabhängigkeit bedeutet? Wie soll diese kleine Insel überleben ohne die Subventionen aus Chile? Nein, die Unabhängigkeit lässt sich nicht verwirklichen. Nicht mit mir! Das Beste für uns ist eine starke Autonomie, mit der wir uns selbst verwalten, aber gleichzeitig Teil der chilenische Republik bleiben.". Das ideale Modell ist dabei für ihn das neueste Statut von Französisch-Polynesien. Als langjähriger Freund von Ex-Präsident Gaston Flosse hat Petero Edmunds die politische Entwicklung seines Nachbarlandes seit Jahren intensiv verfolgt, allerdings nur aus dem Blickwinkel der flosseschen Elite, und nicht aus dem der verarmten tahitischen Volksmassen, die sich in den Slums der Vorstädte von Papeete zusammenballen und täglich ums Überleben kämpfen, während die großzügigen französischen Subventionsgelder in der Flosse nahestehenden Oberschicht versickerten.

In den letzten Jahren hat sich allerdings das Verhältnis des Bürgermeisters von Rapa Nui zu Flosse deutlich abgekühlt, wohl aufgrund der sich stetig steigernden Großmannssucht des letzteren, für den die kleine Nachbarinsel unbedeutend wurde, nachdem er sich mit Politikern aus großen Ländern wie Korea und China getroffen hatte. Bei Edmunds’ letzten Besuchen in Tahiti hatte Flosse nie Zeit ihn zu empfangen, und schließlich weigerte sich Flosse, ihn zum Gipfeltreffen pazifischer Politiker während Jacques Chiracs Besuch in Tahiti im Juli letzen Jahres einzuladen. Das jüngste politische Erdbeben in Tahiti gibt Edmunds nun Hoffnung auf eine neue Ära der pazifischen Kooperation. Nachdem ich ihm erzählt hatte, ein Mitglied in Oscars Partei zu sein, bat er mich spontan darum, einen Gratulationsbrief an Oscar Temaru zu überbringen. Er sagte mir, dass er die Einfachheit und Unkompliziertheit von Oscar sehr schätzt und dem übertriebenen Protokollstil von Gaston Flosse eigentlich bei weitem vorzieht. Als Analyse von Flosses Scheitern und gleichsam als Lehrsatz für alle Staatsmänner meinte er: "Man muss stets einfach und demütig bleiben. Sobald man anfängt, auch nur ein wenig arrogant und gierig zu werden, beginnt unweigerlich der Abstieg". Tatsächlich hatte ich das Gefühl, mit Petero Edmunds, trotz aller kritischen Kommentare, die ich über ihn gehört hatte, einen in seiner Unkompliziertheit und Spontaneität sympathischen, typisch polynesischen Politiker vor mir zu haben, der von seinen Umgangsformen her eher an Oscar Temaru als an Gaston Flosse erinnert. Als ich ihn zum ersten Mal sah, saß er auf einer Treppenstufe vor seinem Büro, um sich zu unterhalten, ganz ähnlich wie ich Oscar Temaru in Faaa angetroffen hatte. Flosse dagegen hätte sich wohl nie auf die Stufen vor seinem Palast gesetzt um mit einem Freund zu plaudern, sondern stets sein klimatisiertes Luxusbüro mit Mahagonischreibtisch und Polstersessel vorgezogen.

Viel mehr noch als den Bürgermeister und der Gouverneur (in dessen Namen ich ebenfalls Oscar zu seinem Wahlsieg gratulieren sollte) freuten sich aber die Unabhängigkeitsaktivisten des Parlaments über den Sieg der Opposition in Tahiti

Die Mitglieder des Rapanui-Parlements, mit ihrem Präsidenten Juan Teave Haoa (der dass T-Shirt von Oscar Temarus UPLD-Koalition trägt), und Erity Teave (die gemeinsam mit ihrer Tochter die tahitische Unabhängigkeitsflagge hält) freuen sich über die Nachrichten aus Tahiti.

. Nachdem einmal bekannt geworden war, dass ich Oscar persönlich kenne und Mitglied seiner Partei bin, wurde ich von allen Mitgliedern des Parlaments auf die wärmste und freundschaftlichste Weise empfangen und umworben. Erity erklärte mir stundenlang die Geschichte ihrer Bewegung und half mir unermüdlich bei der Übersetzung, falls ein Gesprächspartner nur spanisch konnte. Am Ende wurde ich von allen Parlamentsmitgliedern mit Geschenken, für mich und für Oscar, überhäuft. Juan Teave bestand schließlich sogar darauf, dass ich für die Übernachtung in seinem Hotel nichts zu zahlen hätte. Anderen Aktivisten wurde ich stets als der "Freund von Oscar aus Tahiti" vorgestellt. Wenn es die Unabhängigkeitsbewegung geschafft hat, in Tahiti an die Macht zu kommen, dann heißt das, so die Schlussfolgerung der Unabhängigkeitsaktivisten, dass der Kampf für die Unabhängigkeit im Pazifik eine große Zukunft vor sich hat. Ebenso wie Oscar und seine Mitarbeiter in Tahiti sind sich die Mitglieder des Rapanui-Parlaments allerdings darüber im klaren, dass sich die Unabhängigkeit nicht von heute auf morgen verwirklichen lässt. Was die gegenwärtige Situation betrifft, sind sich alle über die wirtschaftliche Analyse des Bürgermeisters einig, nämlich dass die Insel total von Chile abhängig ist. Aber anstelle dies einfach als gegeben hinzunehmen, wollen die Unabhängigkeitsbefürworter die Ressourcen ihrer Insel entwickeln und eine autarke Wirtschaft aufbauen, in Kooperation und gegenseitigem Respekt mit Chile. Nach einer Übergangsperiode von mindestens 5 Jahren könnte dann ein Referendum über die Unabhängigkeit stattfinden. Der erste und entscheidende Schritt auf diesem langen Weg in die Unabhängigkeit ist allerdings die Einschreibung Rapa Nuis auf der Liste der nicht selbstregierten Gebiete des UN- Entkolonisiesrungskomitees (in die Rapa Nui eigenartigerweise nie aufgenommen wurde, obwohl die Insel ganz klar die Kriterien einer Aufnahme, das heißt geographische Trennung und kulturelle oder ethnische Verschiedenheit vom kolonialen Mutterland, erfüllt). Aus diesem Grund reiste Erity im Mai nach New York, um sich gemeinsam mit anderen Vertretern aus dem Pazifik bei der UNO dafür einzusetzen.

Der Kampf um die Bewahrung der lokalen Identität läuft allerdings nicht allein auf politischer Ebene ab, sondern auch auf kultureller. Im einzigen Radio der Insel, das von der Gemeinde, sprich vom Bürgermeister, betrieben wird (das zweite, damals vom "Ältestenrat Nummer Zwei" betriebene, wurde als illegaler Piratensender Ende der 90er Jahre von der Regierung geschlossen), läuft den ganzen Tag lang südamerikanische Musik, die nur von Zeit zu Zeit durch ein Lied aus Rapa Nui oder aus Tahiti unterbrochen wird. Ein weiterer Grund, weshalb sich die Unabhängigkeitsbewegung über den Bürgermeister beklagt. Erity: "Wir sind keine Südamerikaner. Wir haben nichts mit Lateinamerika zu tun. Im unserem Ursprung, unserer Sprache, unserer Kultur, und unserem Leben sind wir Pazifikinsulaner. Warum kommt dann lateinamerikanische Musik im Radio? Es gibt Hunderte von Alben pazifischer Musik, um das ganze Programm damit zu füllen. Und wenn schon ab und zu mal Musik von außerhalb des Pazifiks, dann lieber klassische Musik, da könnten die Leute wenigstens was davon lernen". Andere Aktivisten haben der Politik den Rücken gekehrt und konzentrieren sich ganz und gar auf die Pflege und Fortführung kultureller Traditionen. Einer von diesen ist Karlo Huke Atan, der als Gründer der kulturellen Erneuerungsbewegung angesehen werden kann. Nachdem er in Chile Kunst studiert hatte, gründete er bereits 1975 die erste Tanz- und Theatergruppe der Neuzeit auf Rapa Nui, womit die traditionelle darstellende Kunst wiederbelebt wurde. Nachdem er mehrer Jahre in Tahiti gelebt hatte, kehrte er Mitte 90er Jahre nach Rapa Nui zurück, uns spielte dann eine bedeutende Rolle bei der Vorbereitung der Landung des hawaiischen Doppelrumpfbootes ōūle‘a im Jahr 1999, ein Spektakel, das für die kulturelle Wiederanknüpfung Rapa Nuis an die gesamtpolynesische Kultur von zentraler Bedeutung war. Ich traf Karlo zufällig, als er bei Erity war, um mit ihr zu diskutieren. Bekannt war er mir allerdings schon aus der Literatur, als Lebensgefährte der deutschen Auswanderin Stephanie Pauly, die seit acht Jahren mit ihm zusammenlebt und vor zwei Jahren ein sehr einfühlsames Buch über ihr Leben mit Karlo publiziert hatte. Karlo und Stephanie zu besuchen war ein weiteres äußerst bewegendes Erlebnis für mich. Die beiden gehören zu den wenigen, die auf den Komfort des Lebens in Hange Roa verzichten und auf dem Land von Karlos Vorfahren im Inneren der Insel leben, ohne Strom, fließendes Wasser, oder Toilette. Gleichzeitig müssen sie täglich damit rechnen, das ihr Haus von der Regierung abgerissen wird, denn das Land auf dem sie wohnen ist nach chilenischer Sicht ebenfalls Staatseigentum und sie sind somit illegale Landbesetzer.

Daß manche Leute dem Leben in Hanga Roa den Rücken kehren und ganz und gar ihre Identität als Rapanui wiedererlangen wollen, ist umso verständlicher, wenn man sich die ethnische Zusammensetzung des Ortes anschaut: Mittlerweile sieht man auf den Straßen von Hanga Roa fast ebenso viele chilenische Siedler wie Rapanui. Jede Woche kommen neue Siedler mit dem Flugzeug aus Santiago, um ihre Glück auf der Insel zu suchen. Es sind weniger reiche Rentner auf der Suche nach einem Alterssitz, wie das für die französischen Siedler in Tahiti oder die amerikanischen Siedler in Hawai‘i gilt, denn in Rapa Nui können glücklicherweise Nichteinheimische kein Land kaufen. Vielmehr handelt es sich um Abenteurer aus der chilenischen Unterschicht, oft von zweifelhaftem Ruf, die von der Tatsache angezogen sind, dass die zahlreichen ausländischen Touristen auf Rapanui mit US-Dollars zahlen, und zwar nicht schlecht. Hanga Roa ist vermutlich das Dorf mit der weltweit höchsten Dichte von Taxis. Fast alle diese Taxifahrer sind Chilenen. Das gleiche gilt für viele der Besitzer und Angestellten der kleinen Supermärkte, Souvenirgeschäfte und Restaurants. Selbst wenn gleichzeitig große Teile des Tourismussektors nach wie vor in den Händen der Rapanui sind (eines der größten und profitabelsten Hotels wurde zum Beispiel von einem der "Ältestenrat Nummer Zwei"- Aktivisten auf von seiner Familie "illegal besetztem" Land gebaut!), besorgt dieses zunehmende Eindringen von Chilenen die Einheimischen. Setzt sich die Tendenz ungebremst fort, werden die Rapanui in wenigen Jahren eine Minderheit im eigenen Land sein. Wenn wie oben erwähnt das Land auch vor dem Ankauf durch chilenische Privatleute gesetzlich geschützt ist, so liegt die Gefahr die von den chilenischen Siedlern ausgeht vor allem in deren zunehmender politischer Aktivität, denn das lokale Wahlrecht bekommen sie automatisch. Bereits jetzt sitzt im Gemeinderat unter fünf Mitgliedern eine chilenische Siedlerin, und nach Meinung seiner zahlreichen Kritiker gewinnt Bürgermeister Edmunds die Wahlen nur dadurch, dass mehr als die Hälfte seiner Stimmen von chilenischen Siedlern stammt. Auch der Bürgermeister selbst ist allerdings der Meinung, dass die Einwanderung aus Chile stark eingeschränkt werden muss, soll die Identität der Insel erhalten bleiben, weshalb in seinem Autonomievorschlag eine Art Visum für Kontinentalchilenen vorgesehen ist.

Aber der Kampf gegen die Chilenisierung ist auch Teil des täglichen Lebens. "ānanga Rapanui koe!" (Du sprichst Rapanui !) antwortet Erity ihrer Tochter jedes Mal, wenn diese sie auf Spanisch anspricht. Ähnlich wie in Tahiti hat das koloniale Schulsystem in Rapa Nui einen enormen kulturellen und vor allem sprachlichen Verlust unter der jüngeren Generation verursacht. Unter den Kindern hat Spanisch Rapanui bereits mehr oder weniger als Kommunikationssprache abgelöst. Nur noch etwa 20 Prozent von ihnen wachsen mit Rapanui als Muttersprache auf. Seit einigen Jahren wird zwar wieder Rapanui in der Schule unterrichtet, aber jetzt ist es fast zu spät, den Schaden der jahrzehntelangen Assimilationspolitik wieder zu reparieren. Seit kurzem gibt es nun ein Rapanui-Immersionsprogramm, nach dem Modell der neuseeländischen Kohanga Reo (Sprachennester), das heißt das Angebot ausschließlich in Rapanui gehaltenen Unterrichts. Über die Notwendigkeit eines solchen Programms zur Erhaltung des Rapanui als Muttersprache hat sich schließlich ein Konsens herausgebildet, aber der Überzeugungskampf dafür war sehr langwierig.

All diese Problemfelder zeigen, dass der Kolonialismus im Pazifik überall die gleichen Schäden anrichtet, gleich ob es sich um die Amerikaner in Hawai’i, die Franzosen in Tahiti oder die Chilenen in Rapa Nui handelt. Es wird Zeit, dass sich die Weltöffentlichkeit diesen Problemen annimmt und alles getan wird, um diese weltweit einzigartigen Nationen vor dem Untergang zu bewahren. Die von der UN ausgerufene "Zweite internationale Dekade zur Ausrottung des Kolonialismus" läuft bis 2010. Es wäre schön, wenn Chile bis dahin zur seit langem überfälligen Entkolonisierung Rapa Nuis bewegt werden könnte.
Zum Abschluß möchte ich nochmals all meinen neu gewonnenen Freunden in Rapa Nui, insbesondere Juan Teave, seiner Frau, und seinen Töchtern Erity und Ines, sehr herzlich für ihre Gastfreundlichkeit und Offenheit gegenüber meinem Interesse sowie ihre Großzügigkeit und Freigiebigkeit danken. Ich hoffe für sie, dass der wundersame politische Wechsel in Tahiti nur der Anfang einer zukünftigen Welle politischer Umwälzungen in den letzten Kolonien des Pazifiks ist.

Gruppenfoto mit den Unabhängigkeitsaktivisten vor dem Sitzungsgebäude des Rapanui-Parlaments mit der Rapanui-Flagge. Links Erity Teave, in der Mitte der Autor, und rechts der Präsident des Parlaments, Juan Teave Haoa.

(Anmerkung: Teile dieses Artikels erschienen unter dem Titel "Autonomie ou indépendance pour Rapa Nui?" auf französisch in der tahitischen Wochenzeitung to’ere, Nr. 160, vom 1. Juli 2004)