Bikinis strahlender Jahrestag

28.02.2004: Atomtestfolgen im Pazifik 50 Jahre nach der "Bravo"-Bombe - Analysen und Ausblicke

Atombombe über Bikini (U.S. Energie-Ministerium)

Bericht zum Seminar des Pazifik-Netzwerks e.V. am 28. Februar 2004 im Jugendgästehaus Lehrter Straße in Berlin

Am 1. März 2004 jährte sich zum fünfzigsten Mal die Explosion der größten US-Wasserstoffbombe mit dem Code-Namen "Bravo" auf dem Bikini-Atoll im Pazifik. Über 2050 Atombomben wurden zwischen 1945 und 1998 weltweit "zu Testzwecken" gezündet. Noch heute leiden viele Menschen an den Strahlenfolgen, in Testgebieten wie etwa Französisch-Polynesien müssen die Bewohner noch immer um die Ankennung ihrer Strahlenkrankheiten ringen. Anderswo scheinen die schwerwiegenden Folgen von Atomexplosionen in Vergessenheit geraten zu sein, verfolgt man die aktuelle Debatte um Entwicklung und Einsatz von "Mininukes"und nuklearen "Bunker Busters".Um uns über die gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen des Einsatzes von Atomwaffen "zu Testzwecken" im Pazifik zu informieren, hatten wir Lijon Eknilang von den Marshall Islands eingeladen, die als Kind die Explosion von "Bravo" mit der etwa 1000fachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe miterlebt hat.

Ein historisches Filmdokument rief uns zum Einstieg in Erinnerung, wie die Bewohner des Bikini-Atolls im Jahr 1946 von Ben Wyatt, dem US-Militärgouverneur der Marshall-Inseln, dazu überredet wurden, "zum höheren Wohle der Menschheit" ihre Heimat zu verlassen. Bernd Sauer-Diete vom Pazifik-Netzwerk gab anschließend in einer Diaschau einen Überblick über 50 Jahre atomarer Explosionen im Pazifik, von 1946 bis 1996, auf den Marshall-Inseln, der Weihnachtsinsel, dem Johnston-Atoll, auf Moruroa und Fangataufa. Mit Fotos von Krebspatienten und von Protest-Demonstrationen wurden auch schon die gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Folgen der Tests angeschnitten.

Seit vielen Jahren erinnern Nichtregierungsorganisationen im Pazifik am 1. März, dem Jahrestag der folgenschwersten atomaren Explosion im Pazifik, an die Auswirkungen der über 300 Atomtests im Pazifik. Zunächst als "Bikini Day" bezeichnet erfolgte dann eine Umbenennung in "Nuclear Victims’ Remembrance Day", um deutlich zu machen, dass es nicht nur um die Opfer von Bikini geht.

Lijon Eknilang, Marshall-Inseln

Lijon Eknilang von den Marshall Islands war es aber sehr wichtig, von "Nuclear Survivors’ Remembrance Day" zu reden: Die Betroffenen wollen sich nicht mehr als "Opfer" fühlen, sondern als "Überlebende" ihr weiteres Schicksal in die eigene Hand nehmen. Wie sie selbst die Explosion der Wasserstoffbombe "Bravo" am 1. März 1954, die anschließende Odyssee der Bewohner von Rongelap und Ailinginae, drei Jahre später die Rückkehr auf ihre immer noch verseuchten Inseln und den anschließenden Ausbruch bis dahin in ihrer Heimat unbekannter Krankheiten erlebt hat, schilderte Lijon Eknilang sehr eindrücklich. Auch in den Presseberichten wurde das ausführlich zitiert:

Aus der Frankfurter Rundschau vom 28.2.2004 (S.10): "Lijon Eknilang ist heute 58 Jahre alt. Eine kleine, schüchterne Frau, der ein Tumor aus der Schilddrüse entfernt wurde und die sieben Fehlgeburten hinter sich hat. Ihr Gehör ist schlecht geworden mit der Zeit, ab und an schwellen ihre Gelenke unnatürlich an, und wenn sie liest, flirren nach wenigen Minuten bereits die Augen. Eine kranke Frau, aber nicht gebrochen. Sie ist Ratsfrau geworden in ihrer Heimat und hat einen Verein von Überlebenden gegründet. Sie war in Washington, mehrfach, und hat dort mit der Regierung verhandelt. Überall auf der Welt hat sie auf Symposien und Kongressen geredet. Jetzt ist sie in Berlin, um zu berichten, wie es ist, ein menschliches Versuchskaninchen zu sein."

Aus "Kommunikation Global", Jahrgang V/Nr. 51, März 2004: "Erst 1957 kehrten sie nach Rongelap zurück, das immer noch versucht war. Wissenschaftler dagegen versicherten den Insulanern die Rückkehr sei völlig ungefährlich, um die Strahlenopfer weiter beobachten zu können. Dies belegt der US-Bericht ‚A Study of Human Beings Exposed to Radiation’, den Eknilang erst Jahre später zu Gesicht bekommt. Ihr Name exisitert nicht. Nur eine Nummer, sie ist die 53. "Wir waren besser als Ratten, denn wir konnten wenigstens sprechen", so die bittere Bilanz Eknilangs."

Aus der Wochenzeitung "Zeit-Fragen" (Zürich) vom 15.3.2004: "Lijon Eknilang(s …) Großmutter starb in den 60er Jahren an Schilddrüsen- und Magenkrebs. Ihr Vater starb 1954, nachdem ihn der Fallout beim Fischen auf dem Meer überrascht hatte. Ein Vetter starb 1960 an Krebs, ein anderer 1972 an Leukämie, zwei Schwestern wurden 1981 an der Schilddrüse operiert. Sie selbst kann keine Kinder bekommen. (…) Tragischerweise wird Kinderlosigkeit auf den Marshallinseln als Zeichen für die Treulosigkeit der Frau angesehen, deshalb redet niemand gerne über die vielen Fehlgeburten, über schwer missgebildete Kinder, die als "Quallenbabys", "Kraken", "Äpfel" oder "Schildkröten" bezeichnet werden. Besonders bekannt wurden die "Quallenbabys", die mit durchsichtiger Haut und ohne Knochen geboren werden, man kann das Gehirn und das schlagende Herz sehen, sie haben keine Beine, keine Arme, keinen Kopf, bewegen sich einige Zeit und sterben dann."

An die von Lijon Eknilang beschriebenen Krankheiten knüpfte im Seminar der Strahlenphysiker Dr. Sebastian Pflugbeil an. Er führte aus, wo sich im Körper welche radioaktiven Stoffe anreichern, etwa Caesium in der Muskelmasse, was v.a. bei Kindern zu einer problematischen Cs-Anreicherung im Herzmuskel führen kann. Radioaktives Jod wandert - wie gewöhnliches Jod - in die Schilddrüse, wo es zur Zerstörung dieses Organs, das den Wachstumsprozess steuert, führt. Auf den Marshall-Inseln mussten sich viele Bewohner einer Schilddrüsenoperation unterziehen und sind seither auf die lebenslange Einnahme von Medikamenten angewiesen. Auch in Föten reichert sich radioaktives Jod an, dies ist aber noch wenig untersucht, genau wie die Frage, inwieweit Strahlenschäden an künftige Generationen weitergegeben werden; wohingegen schwere Missbildungen bei Säuglingen oder die Geburten unförmiger, nicht lebensfähiger Wesen in allen von Atomexplosionen stark betroffenen Gebieten offensichtlich sind. Radioaktives Strontium wird vom Körper behandelt wie Calcium und in den Zähnen und Knochen eingelagert, die davon ausgehende Strahlung schädigt die Immunabwehr und den Blutbildungsmechanismus im Knochenmark, weshalb viele Strahlenopfer an Leukämie sterben. Zur Zeit der oberirdischen Tests wurden große Mengen dieser radioaktiven Substanzen auch in der gesamten nördlichen Hemisphäre gemessen. So wiesen 1963 bundesdeutsche Knochen die höchsten Gehalte an Strontium 90 auf, im selben Jahr sorgte der steile Anstieg der radioaktiven Isotope in US-amerikanischen Kinderzähnen öffentlich für Furore. Solche Messungen trugen letztlich mit dazu bei, dass sich die USA, Großbritannien und die UdSSR im Jahr 1963 auf ein Verbot atmosphärischer Atomwaffentests einigten (Partieller Atomtestsperrvertrag).

Nach dem Mittagessen konnte der Biologe Bernd Franke vom ifeu Heidelberg (Institut für Energie- und Umweltforschung) zur Klärung einiger Fragen hinsichtlich der Entschädigungszahlungen für die Bewohner der Marshall Islands, die am Vormittag offen geblieben waren, beitragen. Bernd Franke war mehrere Jahre lang auf den Marshall-Inseln am "Rongelap Resettlement Project" beteiligt, hat für die Bewohner des ebenfalls radioaktiv verseuchten Utirik-Atolls ein Gutachten erstellt und konnte von uns relativ kurzfristig als zusätzlicher Referent gewonnen werden. Aus den vor einigen Jahren freigegebenen offiziellen US-Dokumenten, die Bernd Franke vorstellte, geht zweifelsfrei hervor, dass die am Testtag des 1. März 1954 vorherrschende Windrichtung frühzeitig bekannt war, die Bewohner von Rongelap, Ailinginae und Utirik mithin absichtlich verseucht und anschließend als willkommene wissenschaftliche Versuchskaninchen betrachtet wurden, die man regelmäßig untersuchte, aber nicht behandelte.

Die - formal unabhängigen - Marshall Islands werden bis zum heutigen Tage von den USA militärisch genutzt: Das Kwajalein-Atoll ist Zielgebiet für die Tests von Interkontinentalraketen, die von Vandenberg/Kalifornien abgeschossen werden, und dient auch als Abschussbasis für Anti-Raketen-Raketen großer Reichweite (zur Entwicklung eines Raketenschutzschirmes). Über die lokalen Auswirkungen dieser Tests gibt es auch in Fachkreisen in Deutschland wenig Informationen. Gerhard Piper vom bits (Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit) holte in seinem Vortrag zu Kwajalein deshalb recht weit aus, mit vielen waffentechnischen Details, die ein wenig vom eigentlichen Seminarthema wegführten.

Über die konkreten Lebensbedingungen auf der Insel Ebeye, auf die die ehemaligen Bewohner der von den USA militärisch genutzten Inseln des Kwajalein-Atolls zusammengepfercht wurden und auch heute noch leben müssen, konnte jedoch Lijon Eknilang detailliert berichten, da sie selbst viele Jahre auf dem mit fast 10 000 Menschen besiedelten winzigen Eiland zugebracht hat.

Um den deprimierenden Folgen atomarer Experimente der Großmächte etwas Positives gegenüberzustellen, hatten wir eine Vertreterin der neuseeländischen Botschaft eingeladen. Deborah Prowse stellte die konsequent "nuklearfreie" Politik ihrer Heimat vor, von den Protesten Neuseelands - z.B. vor 30 Jahren mit einer ins Testgebiet entsandten Fregatte - gegen die französischen Atomtests im Pazifik, über die Ablehnung von Atomkraftwerken im eigenen Land und das Verbot der Anlandung nuklear betriebener Kriegsschiffe in neuseeländischen Häfen, bis hin zu den heutigen Protesten gegen die transpazifische Verschiffung nuklearer Brennstäbe von europäischen Wiederaufarbeitungsanlagen nach Japan.

Die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki und die Auswirkungen der weltweit über 2050 Atomtests werden von vielen Menschen als abgeschlossenes Kapitel betrachtet, auch vor dem Hintergrund der Willensbekundungen von Politikern zur nuklearen Abrüstung. Dem steht jedoch die Schaffung einer neuen Generation kleinerer Atomwaffen gegenüber. Der US-Kongress hat für die Entwicklung robuster erdbunkerbrechender Atomwaffen bereits Haushaltsmittel in Millionenhöhe bereitgestellt; gleichzeitig soll die Konstruktion neuer atomarer Waffen mit geringer oder geringster Sprengkraft ("Mini-Nukes") vorangetrieben werden.

Dr. Sebastian Pflugbeil, Berlin; Andreas Zumach, Genf

Diese könnten, so der Journalist und Sicherheitsexperte Andreas Zumach (Genf), zu der gefährlichen Illusion führen, man sei im Besitz einer relativ "sauberen" Waffe. Man brauche, so werde argumentiert, neue Waffengenerationen, um chemische oder biologische Waffen von Terroristen oder anderen Feinden unschädlich zu machen; in einem Pentagon-Dokument werden, so Zumach, sogar Präventivschläge gegen sog. ’Schurkenstaaten’ in Erwägung gezogen. Die Schwelle vor einem Einsatz ‚kleiner’ Atomwaffen, die dann auch nicht mehr unter den Begriff "Massenvernichtungswaffen" fallen, wird niedriger, sollen doch die von der Hitzewelle, dem Druck und den radioaktiven Strahlen angerichteten Schäden auf einen ’relativ kleinen Umkreis’ beschränkt bleiben. Wie es den bestrahlten Menschen dann ergehen wird (egal wie ’klein’ der Umkreis war), das hatten wir von Lijon Eknilang erfahren.

Ingrid Schilsky, Pazifik-Netzwerk e.V., Hamburg

Liste der Referenten

Bernd Sauer-Diete, Berlin: Studium der Ethnologie (FU Berlin) mit Schwerpunkt Ozeanien, Forschungsaufenthalt auf Palau; langjährige Arbeit mit der Projektgruppe Pazifik e.V. (Diaserie, Ausstellungen, Filmfestival, Vorträge); seit 1994 Bildredakteur beim TIP-Magazin in Berlin.

Dr. Sebastian Pflugbeil, Berlin: Physiker, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, Berater der IPPNW (Ärzte gegen Atomkrieg), Vorstandsmitglied des Deutschen Verbandes für Tschernobylhilfe. Gründungsmitglied des Neuen Forum, Minister und Mitglied des Abgeordnetenhauses (Berlin) a.D. Zahlreiche Studienreisen in die Tschernobylregion und die sowjetischen Atomtestgebiete.

Andreas Zumach, Genf: Studium von Volkswirtschaft und Journalismus in Köln, internationaler Korrespondent der taz und weiterer Zeitungen und Rundfunkanstalten bei der UNO in Genf; ehemals Sprecher des bundesweiten Koordinierungsausschusses der Friedensbewegung und Mitarbeiter der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienst.

Zugehörige Dateien:
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