TAUI- Ein politisches Erdbeben erschüttert Tahiti

01.09.2004: Eindrücke vom Wahlkampf in Französisch-Polynesien

TAUI - Ein politisches Erdbeben erschüttert Tahiti

Persönliche Eindrücke von Lorenz Gonschor

Anfang April, während ich in Hawai’i durch Uni und private Probleme im vollen Stress steckte, erreichte mich überraschend die Nachricht aus Tahiti, dass vorgezogene Neuwahlen für den 23. Mai vorgesehen sind. Da ich seit Jahren die Politik dieses Landes sehr intensiv verfolge und selbst Mitglied in der Partei des damaligen Oppositionsführers Oscar Temaru bin, fühlte ich mich verpflichtet, meine Reisespläne für die Semesterferien so zu gestalten, dass ich während des Wahlkampfes in Tahiti sein konnte. Richtige Lust verspürte ich allerdings nicht, denn die Eindrücke meiner letzten Reise nach Tahiti Anfang dieses Jahres hatten mich eher deprimiert und mir eigentlich jede Hoffnung auf eine politische Wende genommen. Meine tahitischen Freunde sahen das nicht anders. Einer von ihnen riet mir am Telefon ausdrücklich davon ab, zu den Wahlen nach Tahiti zu kommen, weil ich dann ausschließlich Enttäuschungen erleben würde. Er meinte es mache überhaupt keine Sinn mehr, gegen das Regime des pro-französischen Präsidenten Flosse anzukämpfen, weil dieser inzwischen praktisch allmächtig geworden sei. Aufgrund meines wissenschaftlichen Interesses entschied ich mich aber schließlich dennoch, die Reise zu unternehmen. Wie gut, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Denn wie es sich herausstellen sollte, würde ich einem historischen Augenblick in der Geschichte Tahitis beiwohnen. Die Wahlen sollten zum Debakel für Flosse und zum Triumph für Oscar Temaru und all meine Freunde werden. Einer der Schlüssel zu diesem Erfolg war sicherlich die Tatsache, dass Oscars Unabhängigkeitspartei Tavini Huiraatira sich nicht allein präsentierte, sondern mit den kleineren Parteien Ai’a Api (Emile Vernaudon), Here Ai’a (Georges Handerson), Ia Mana Te Nunaa (Jacqui Drollet), der Gewerkschaft O Oe To Oe Rima (Ronald Terorotua) und der parteilosen Bürgermeisterin der Insel Tubuai, Chantal Tahiata-Flores, ein Wahlbündnis unter dem Namen UPLD (Union pour la Démocratie, dt. Union für Demokratie) formiert hatte.

Den ersten Triumph von Oscars Wahlbündnis konnte ich allerdings leider nicht live miterleben:. Während ich im Flugzeug saß, demonstrierten in Papeete Tausende von Oscars Anhängern für einen politischen Wechsel.

Autokorso der UPLD in Tautira

Diese Demonstration eine Woche vor dem Wahltermin wurde im Nachhinein als Wendepunkt der Kampagne angesehen. Im Laufe der folgenden Woche gab es jeden Abend eine Wahlkampfveranstaltung, und diese waren jedes mal von mehr Leuten besucht. Am Samstag vor dem Wahltermin schließlich veranstalteten die Oppositionsaktivisten ein Autokorso um die Insel Tahiti. Schätzungsweise fünfhundert Autos, alle mit den blau-weiß-blauen Flaggen der Unabhängigkeitsbewegung dekoriert, bildeten eine Schlange von mehreren Kilometern entlang der Küstenstraße. Als wir schließlich in dem Dorf Tautira am Ende von Tahitis Halbinsel ankamen, war das gesamte Dorf von all den Autos verstopft

Demonstration der UPLD (Foto: Tareparepa Teinauri)

. Die Anwesenheit solcher Massen an Aktivisten trug sicherlich auch entscheidend dazu bei, eine Stimmung des Wechsels unter der Bevölkerung zu erzeugen. Taui (tahitisch: Wechsel) wurde zum Schlagwort der Kampagne. Überall hörte man diesen Ruf, wenn es um Politik ging. Trotz dieser positiven Stimmung blieben wir natürlich dennoch sehr vorsichtig in unserer Vorfreude. Es war uns klar, dass Flosse, selbst wenn er etwas unpopulärer geworden war, über so beachtliche Geld- und Machtmittel verfügt, dass es äußerst schwer sein würde, gegen sein System anzukommen.

Am Wahlabend schließlich schien zuerst Ernüchterung die Runde zu machen: Die Wahlkreise der äußeren Inseln wurden einer nach dem anderen ausgezählt und überall erhielt Flosses Partei satte Mehrheiten. Die Überraschung kam dann bei der Auszählung des Hauptwahlkreises der Inseln unter dem Wind (Tahiti und Moorea). Als es plötzlich hieß, die UPLD kriegt 24 Sitze und Flosses Tahoeraa nur 11, glaubten wir zuerst, die Nachrichtensprecherin hätte sich versprochen. Doch einige Minuten später war klar: Das unfassbare ist geschehen: Flosse hat keine Mehrheit mehr.

Paradoxerweise ist dieser unerwartete Sieg der Opposition ausschließlich dem von Flosse geschaffenen neuen Wahlsystem zu verdanken, das der stärksten Partei in jedem Wahlkreis zusätzlich zu ihrem proportionalen Sitzanteil einen Bonus von einem Drittel der Sitze zuerkennt und eigentlich dazu konzipiert worden war, Flosses Partei Tahoeraa Huiraatira selbst bei einer nur knappen Mehrheit der Stimmen eine überragende Mehrheit an Parlamentssitzen zu sichern. In allen Wahlkreisen der äußeren Inseln ging diese Strategie auch auf, aber ausschlaggebend war aber das Ergebnis in Tahiti und Moorea. Durch einem knappen Vorsprung von weniger als 400 Stimmen vor Flosses Tahoeraa kam hier die UPLD in den Genuss der Bonusklausel und erhielt 24 Sitze, gegenüber nur 11 für die Tahoeraa.
Insgesamt blieb Flosses Tahoeraa Huiraatira mit insgesamt 28 Sitzen zwar stärkste Fraktion der Versammlung, ihr fehlte aber eine Stimme für die absolute Mehrheit. Oscar Temarus UPLD kam mit 27 Sitzen auf den zweiten Platz. Den Ausschlag bildeten somit die beiden kleinen pro-französischen Oppositionsparteien Fetia Api (Philip Schyle) und No Oe E Te Nunaa (Nicole Bouteau).

Obwohl Flosse am Wahlabend seine Niederlage eingestanden hatte und verkündete, dass "logischerweise Oscar Temaru meinen Platz als Präsident einnehmen sollte", versuchte er in den folgenden Tagen und Wochen mit allen Mitteln die Machtübergabe doch noch zu verhindern. Aufgrund des knappen Ergebnisses konnte Flosse, mit Unterstützung der französischen Ministerin für überseeische Territorien Brigitte Girardin, im Laufe der folgenden Tage, ein Klima der Unsicherheit und Gerüchte schüren, um die sich formierende Koalition der drei Oppositionsparteien auseinander zu treiben und doch noch eine Mehrheit zu bilden, was aber im Endeffekt fehlschlug. Nach zähen Verhandlungen vereinbarte Oscar Temarus UPLD dann schließlich mit Philip Schyles Fetia Api und Nicole Bouteaus No Oe E Te Nunaa die Formierung einer Regierungskoalition und die Bildung einer gemeinsamen Fraktion unter dem Namen Majorité Plurielle (pluralistische Mehrheit). Auch alle nicht im Parlament vertretenen Parteien (außer der radikalen Unabhängigkeitspartei Te Taata Tahiti Tiama) schlossen sich der Regierungskoalition an. Flosse hatte zuvor mit allem Mitteln versucht, Philip Schyle für sich zu gewinnen. Er ging so weit, Schyle fünf Ministerien zu überlassen und ihm fünf Tahoeraa-Abgeordnete zu "leihen" damit die Fetia Api ihre eigene Fraktion bilden könne, was Schyle aber empört abgelehnt hatte. Das Regierungsprogramm der Majorité Plurielle konzentriert sich auf die Wiederherstellung eines demokratischen Pluralismus nach den autoritären Tendenzen des Flosse-Regimes, Sozialreformen, Einsparungen im Haushalt und eine Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen und sozialen Situation des Landes. Fragen zum politischen Status des Gebietes wurden bewusst ausgeklammert, um keine Konflikte zwischen Pro- und Anti-Unabhängigkeitsparteien innerhalb der Koalition zu schüren. Bis zuletzt versuchte die Flosse-Regierung auch, UPLD-Abgeordnete zu bestechen, damit sie die Seiten wechseln, was zum Glück aber auch fehlschlug. Ich selbst erlebte, wie versucht wurde, die Mutter einer UPLD-Abgeordneten zu bestechen. Da sie in finanziellen Schwierigkeiten steckte, bot ihr Flosse über Mittelsmänner einen zinslosen Kredit von mehreren hunderttausend Euro an, falls ihre Tochter die Seiten wechselte. Zum Glück waren Mutter und Tochter standfest genug, um das Angebot entschieden abzulehnen.

Am 3. Juni trat die neugewählte Versammlung dann zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Sofort folgte der nächste Streich der alten Mehrheit: Flosses Tahoeraa-Fraktion designierte überraschenderweise den UPLD-Abgeordneten Emile Vernaudon zu ihrem Kandidaten für das Amt des Parlamentspräsidenten. Der vollkommen erstaunte Kandidat wider willen musste sich daraufhin gegen Verdächtigungen seiner Fraktionskollegen, von Flosse gekauft worden zu sein, verteidigen und erklärte öffentlich, nicht für sich sondern für Antony Geros, den Kandidaten seiner Fraktion zu stimmen. Entsprechend der Fraktionsstärke wurde Geros dann mit 29 Stimmen gegen 28 für Vernaudon zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt. Bei der anschließenden Wahl des neunköpfigen Parlamentspräsidiums erhielt die Majorité Plurielle proportional zur Fraktionsstärke 5 und die Tahoeraa 4 Sitze. Flosse weigerte sich jedoch, das Ergebnis anzuerkennen, da seiner Meinung nach der Parlamentspräsident mitzuzählen ist und somit der Tahoeraa 5 Präsidiumssitze zustehen. Als Geros sich weigerte, ihm das Wort zu erteilen, verließ Flosse wutentbrannt die Sitzung und beschwerte sich über die angebliche Diktatur der UPLD, die seiner Fraktion die angemessene Repräsentation im Präsidium vorenthalten wolle. Er hatte dabei aber offensichtlich vergessen, dass in der letzten Legislaturperiode das Präsidium ausschließlich mit Mitgliedern seiner Regierungspartei besetzt war und die Opposition somit überhaupt keine Repräsentation hatte.

Am 14. Juni schließlich wurde Oscar Temaru mit den Stimmen der Majorité Plurielle von der Versammlung zum Präsidenten Französisch-Polynesiens gewählt. Flosse hatte sich geweigert, sich als Gegenkandidat aufstellen zu lassen, weil er die Sitzung für illegal hielt und dagegen beim französischen Verfassungsrat Beschwerde eingelegt hatte, die aber abgewiesen worden war. Bereits vier Tage zuvor war die Versammlung zusammengetreten, um Temaru zum Präsidenten zu wählen, die Sitzung musste aber abgebrochen und vertagt werden, weil Flosses Tahoeraa-Fraktion sie boykottiert hatte. Gleichzeitig war aber der Tahoeraa-Abgeordnete Jean-Alain Frébault von den Marquesas-Inseln zur UPLD übergelaufen, so dass Oscar nun eine etwas stabilere Mehrheit von 30 gegen 27 Sitzen hinter sich hatte. Inzwischen ist auch noch der Abgeordnete der östlichen Tuamotus und Bürgermeister des Atolls Hao, Temauri Foster, zur neuen Regierung übergelaufen. In seiner Programmrede unterstrich Oscar, seinen Idealen als Unabhängigkeitspolitiker weiterhin verpflichtet zu sein. Allerdings werde die Frage der Unabhängigkeit zunächst ausgeklammert, damit alle politischen Kräfte zunächst gemeinsam an einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung des Landes arbeiten könnten. Erst nach 10 bis 20 Jahren sei das Land reif, um über die Frage der Unabhängigkeit zu debattieren. Er forderte Frankreich auf, für Tahiti einen ähnlichen, langsam auf die Unabhängigkeit hinführenden Prozess wie mit dem Nouméa-Abkommen für Neukaledonien einzuleiten.

Die Machtübernahme lief nicht reibungslos ab, weil Flosse und Oscar Temaru sich nicht auf eine formelle Zeremonie der Machtübergabe einigen konnten. Flosse plante, ein perfekt protokolliertes Spektakel inszenieren, mit einem Aufmarsch seiner Palastgarde und der feierlichen Übergabe seiner Funktion als Großkanzler des von ihm selbst geschaffenen Ordens von Tahiti Nui. Oscar dagegen wollte um keinen Preis an einem solchen Zeremoniell teilnehmen, da er damit die Kontinuität des Systems symbolisiert hätte. Was nun mit dem Orden von Tahiti Nui geschieht ist unklar. Am liebsten würde Oscar ihn sicherlich abschaffen und zusammen mit all den anderen Symbolen von Flosses "Tahiti Nui"-Operettenstaat auf der Müllhalde der Geschichte entsorgen. Als Oscar und seine Mitarbeiter dann drei Tage nach der Konstituierung ihrer Regierung in den Präsidentenpalast einzogen, fehlte ihnen jegliche Orientierung. Die Festplatten der Computer waren fast alle komplett gelöscht, und nach einem Archiv suchten Oscars Mitarbeiter vergeblich. Dafür stand im Keller ein Container voller geschredderter Dokumente. Flosse hatte also wie befürchtete die Taktik de "verbrannten Erde" angewandt, um seinem Nachfolgern den Anfang so schwer wie möglich zu machen. Ebenso schockierend wie diese Niederträchtigkeit ist aber auch das Niveau des verschwenderischen Luxus, mit dem Flosse sich umgeben hatte. Hatte ich den Präsidentenpalast 2001 bereits von außen gesehen und mich von Flosses Sekretär durch den Flur des Erdgeschosses führen lassen, so konnte ich damals nur erahnen, wie das für den Präsidenten und seine Ehrengäste reservierte obere Stockwerk ausgestatte war. Als ich die Innenausstattung jetzt mit eigenen Augen zu Gesicht bekam, konnte ich kaum fassen, was ich dort sah: Die Ausstattung all der Räume mit Stuckdecken, Kristalleuchtern und Möbeln aus Edelholz im Stil des 19. Jh., und das alles im Jahr 2000 auf einer tropischen polynesischen Insel erbaut, erzeugt einen Eindruck der vollkommen Irrealität

Einer der Räume des Präsidentenpalastes

. Flosse schuf sich mit teurem Geld eine Märchenwelt, um sich selbst die Illusion zu geben, den Hausherren des Elysée-Palastes, des Weißen Hauses oder des Kremls ebenbürtig zu sein, genau im gleichen Kontext wie die Paläste zahlreicher Diktatoren der dritten Welt.

Der erste Akt des neuen Hausherrn in Flosses Palast war die Abschaffung des komplizierten Protokolls und die Öffnung es Palastes für alle. Von nun an solle dieses Gebäude kein Präsidentenpalast mehr sein, sondern ein Haus des Volkes, sagte der neue Präsident.. Zahlreiche Anhänger von Oscar sowie auch viele einfache Passanten kamen in den Hof des Palastes und setzten sich auf den Rasen oder die Treppenstufen, liefen auf dem roten Teppich die vormals Ehrengästen vorbehaltene Ehrenwendeltreppe ins erste Stockwerk oder unterhielten sich fröhlich mit den einst strammstehenden Palastgarden. Am Abend seines ersten Arbeitstages im Palast, als die Palastküche dabei war, das Abendessen für den Präsidenten und seine Mitarbeiter zu kochen, sagte Oscar spontan in guter tahitischer Tradition "Haere mai ma’a” (Kommt und esst) und lud alle gerade Anwesenden ein, mit ihm im Speisesaal des Palastes zu essen (von Porzellangeschirr und Silberbesteck mit dem Staatswappen von Tahiti Nui, zum Schock der zahlreichen Kellnerinnen und Hostessen, die in Flosses Protokollstil ausgebildet worden waren und nun die Welt nicht mehr verstanden).

Nach wenigen Arbeitstagen zeigte Oscar aber bereits großen Unmut über seinen neuen Arbeitsplatz. Von Anfang an war er gegen Flosses Palast als Regierungssitz gewesen und konnte nur aus pragmatischen Gründen dazu gebracht werden, überhaupt seinen Fuß in das Gebäude zu setzten. Auf Dauer will die Regierung aber wohl in ein anderes, unspektakuläres Gebäude umziehen. Eine von Oscars Mitarbeiterinnen drückte es auf polynesische Weise so aus: "Dieser Palast hat ein schlechtes Mana. Erstens weil er auf dem Gelände erbaut ist, wo die ehemalige koloniale Kaserne stand, in der tahitische Freiheitskämpfer gefangengehalten und misshandelt wurden und zweitens, weil er in der heutigen Form das Ergebnis von Flosses Größenwahn ist. Am Besten wir verkaufen ihn an irgendwelche Investoren, die können dann ein Luxusrestaurant daraus machen".

Das die neue Regierung es ernst meint mit Einsparungen, und zwar in erster Linie an sich selbst, stellte sie im Folgenden eindeutig unter Beweis: In der ersten Sitzung der Versammlung nach der Machtübergabe beschloss die neue Mehrheit, die Diäten für die Repräsentanten und die Ministergehälter mit sofortiger Wirkung um 15% abzusenken. Wenn man vergleicht wie bei uns die Bundestagsabgeordneten ständig unverfroren ihre Diäten erhöhen und höchstens ab und zu einmal bereit sind, die anstehende Erhöhung für einige Zeit "einzufrieren", ist das ein beachtlicher Schritt. Es bleibt zu hoffen, das sich diese Tendenz weiter fortsetzt, denn die einzige Möglichkeit, eine dauerhafte wirtschaftliche Stabilität in Tahiti zu erreichen und von den massiven französischen Hilfsgeldern loszukommen ist ein drastisches Zurückschrauben des verschwenderischen Wohlstandsniveaus der Oberschicht.

Das "Taui" in Tahiti stellt aber nicht allein eine lokale Niederlage von Flosse dar, sondern muss auch im Gesamtzusammenhang der französischen Überseepolitik gesehen werden. Mit dem Wahldebakel von Lucette Michaux-Chevry auf der französischen Karibikinsel Guadeloupe im März, dem von Jaccques Lafleur in Neukaledonien Anfang Mai und schließlich dem von Gaston Flosse in Tahiti sind innerhalb weniger Monate all diese drei "Pfeiler der überseeischen Chiraquie", wie es die französische Presse nannte, umgestürzt worden. Gemeint ist damit, dass all die drei genannten Politiker ebenso charismatische wie autoritäre und korrupte Persönlichkeiten waren, die einerseits durch eine autoritäre Klientelpolitik ihre lokale Macht über lange Jahre sicherten und andererseits durch persönliche Freundschaften mit Jacques Chirac dessen gaullistischer Partei als wichtige Stützen dienten. Die Rolle dieser drei "Pfeiler" für Chiracs Gaullisten war umso bedeutsamer, da sie als "Geldwaschanlagen" für die illegale Finanzierung der gaullistischen Partei von zentraler Wichtigkeit waren, insbesondere nachdem Chirac nicht mehr Bürgermeister von Paris war und damit das Pariser Rathaus als die vierte große "Geldwaschanlage" ausgefallen war. Dieses "System Chirac" ist im Wesen nicht unähnlich dem System der "schwarzen Kassen" und "gestückelten Spenden" von Helmut Kohl, nur durch die Einbeziehung der Überseegebiete noch deutlich raffinierter. Insbesondere zwischen Tahiti und Paris flossen in den letzten Jahrzehnten Hunderte Millionen Euro auf undurchsichtigen Kanälen hin und her, wobei Flosse davon auch persönlich profitierte und mit einem geschätzten Privatvermögen von mehr als hundert Millionen Euro zu einem der vier reichsten Politiker Frankreichs wurde (die drei anderen waren allerdings bereits Multimillionäre, bevor sie aus der Wirtschaft in die Politik wechselten, während Flosse beim Eintritt in die Politik nur Grundschullehrer war und aus sehr einfachen Verhältnissen stammt !).

Oscar Temaru ist ein grundsätzlich anderer Mensch als Gaston Flosse. Während letzter seit seiner Jugend im pro-französischen Establishment verwurzelt ist und weitgehend französische Denkungsweisen übernommen hat (selbst wenn er aus strategischen Gründen durchaus ab und zu auf polynesische Weise handelt), ist Oscar im Grunde genommen stets ein Polynesier der Unterschicht geblieben. Seine Stärke liegt nicht in der Kenntnis französischer Bürokratie, sondern in der Kenntnis seines Volkes und seiner charismatischen Persönlichkeit. Nicht der Terminkalender bestimmt seinen Arbeitstag, sondern die Gabe der Spontaneität und gleichzeitigen tiefen Menschenkenntnis. Sollte Oscar es schaffen, über längere Zeit die Oberhand in der Politik Französisch-Polynesiens zu behalten, wird er alles tun, um die Administration in Tahiti einsprechend dem "Pacific Way" dauerhaft umzugestalten, und den herrschenden technokratischen Pariser Verwaltungsstil abzulösen.

Ich selbst habe die Freundlichkeit und Wärme von Oscars Persönlichkeit hautnah erlebt: Folgendes Erlebnis, das ich wohl nie vergessen werde, wird mir für alle Zeiten seine Unkompliziertheit, Spontaneität und Hilfsbereitschaft in Erinnerung rufen: Einige Tage nach dem Wahlergebnis, als er in zähen Verhandlungen zur Regierungsbildung engagiert war, während gleichzeitig ein allgemeines Klima der Unsicherheit und Gerüchte herrschte und jederzeit mit einem weiteren Schlag der Achse Flosse-Chirac unter die Gürtellinie gerechnet wurde, traf ich Oscar vor seinem Rathaus in Faaa. Er saß mit ein paar Freunden auf der Straße vor dem Eingang des Rathauses und diskutierte mit ihnen über die Politik. Als er mich sah, bat er mich, mich zu ihnen zu setzen. Wir umarmten uns, ich gratulierte ihm zu seinem Wahlsieg und fragte ihn scherzhaft, ob ich ihn jetzt mit "Monsieur le Président" ansprechen sollte, woraufhin er lächelnd sagte, noch sei überhaupt nichts sicher. Ebenso wie seine Freunde trug er kurze Hosen und die landesüblichen Gummischlappen. Nichts an seinem äußeren ließ vermuten, den gerade zum mächtigsten Mann Tahitis gewordenen Politiker vor mir zu haben. Nicht anders als einer meiner Kommilitonen getan hätte, fragte er mich ob ich ihm helfen könne und gab mir sein Handy, das seit einigen Stunden keine Anrufe mehr tätigte. Leider konnte ich ihm nicht helfen, das Gerät wieder in Gang zu setzten. Eine Sabotage durch die lokale Telekom auf Anweisung von Flosse wurde vermutet. Nachdem wir uns einige Zeit lang unterhalten hatten, entschuldigte ich mich, weil es 5 Uhr war und um diese Zeit der letzte Bus fuhr. Oscar meinte daraufhin, er sei sich nicht sicher, ob es überhaupt noch einen Bus um diese Zeit gäbe. Er könne es deshalb nicht verantworten mich alleine gehen zu lassen und bestand darauf, mich persönlich nach Hause zu fahren. Er wies seinen Bruder, der ihm als Chauffeur dient, an, ihn nicht wie geplant zu seinem nächsten Termin, sondern erst die ca. 12 km zu meiner Unterkunft in Punaauia zu fahren. Als wir ankamen, stieg er sogar noch mit mir aus, um sich höflich zu verabschieden und wünschte mir nochmals alles Gute. Dass Oscar mir, einem Ausländer den er kaum persönlich kannte, eine solche Freundlichkeit entgegenbrachte, und das in einer Zeit, wo er selbst extrem im Stress war, zeugt mehr als alles andere von seiner hervorragenden menschlichen Qualität.

Oscar Temaru vor seiner Wahl zum Präsidenten

Auffällig ist auch der humorvolle Stil der neuen Regierung. Selten wurde bei einer Pressekonferenz so vie gelacht, wie bei der Präsentation von Oscars Kabinett. Der Präsident und seine Minister gehen scheinbar mit viel Witz und Humor an die Regierungsarbeit heran. Auf die Frage eines Journalisten, was mit dem von Flosse geschaffenen Verdienstorden von Tahiti Nui geschehen soll, antwortete Oscar: "Möchten Sie dekoriert werden?" Der neue Vizepräsident Jacqui Drollet, für seinen schlagfertigen politischen Humor bekannt, stellte sich folgendermaßen vor "Mein Nachname ist Drollet und ich habe drei Vornamen: Jacques für meine französischen Vorfahren, Harold für meine angelsächsischen Vorfahren, und Tiamatahi für meine Maohi-Vorfahren. Und für alle im Raum die nicht gut genügend Tahitisch können: Tiamatahi heißt ‚der erste Unabhängige’" (Anmerkung des Autors: Jacqui Drollets Unabhängigkeitspartei Ia Mana Te Nunaa wurde bereits zwei Jahre vor Oscar Temarus Tavini Huiraatira gegründet).

Der Geist des politischen Wechsels ergreift die gesamte Gesellschaft Tahitis. Seit dem Wahlabend sieht man auf den Straßen Tahitis blau-weiß-blaue Flaggen an jedem dritten oder vierten Auto, und überall tragen Leute die Wahlkampf-T-Shirts der UPLD.

Wahlkampf vor dem Wahllokal in Faa

Überall hört man den Ruf "Taui!", der fast schon dabei ist, zu einer Begrüßungsformel zu werden. Nachdem die Unabhängigkeitsaktivisten jahrzehntelang als Extremisten gebrandmarkt und gesellschaftlich marginalisiert wurden, spürt man ihren Triumph, nun endlich auf der Seite der Mächtigen zu stehen und ihre politische Meinung völlig ungestraft bekennen zu können, nach so langen Jahren der Enttäuschung und Diskriminierung.
Das Volk der Maohi ist aufgewacht. Die Tahitier haben mit dem Wahlergebnis demonstriert, dass sie nicht länger von Flosse oder anderen an der Nase herum geführt werden können. Nun herrscht eine Aufbruchsstimmung, aber gleichzeitig eine extrem große Erwartungshaltung gegenüber der neuen Regierung. Hoffen wir, dass sich deren Zielsetzungen schnell verwirklichen lassen und die tahitische Gesellschaft damit von den schweren Problemen, unter denen sie zur Zeit leidet, befreit werden kann. Ich wünsche Oscar und all meinen Freunden in Tahiti alles Gute für ihre angestrebten politischen Ziele. Faaitoito! [viel Glück]